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Das Scheidungshuhn (2016)

Die Freundin wirkte müde und abgespannt. Ihre familiäre Situation war alles andere als rosig. Der Hausfrieden hing schon seit Wochen schief, aber vielleicht würde sich in den langen Sommerferien wider Erwarten alles wieder zum Guten wenden, denn die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Sie wollte fürs Erste einfach nur weg, weg von zuhause, vom Alltagstrott, am liebsten gleich für mehrere Wochen und direkt ans Meer im Süden, wo die fünf Kinder fröhlich plantschen würden und wo sie nach Herzenslust Sandburgen bauen und Wassergräben zwischen sie und ihren Gatten ziehen könnten, ohne dass sie diese zwangsläufig als Sinnbild des Abgrunds, der sie tatsächlich von ihrem Gatten trennte, deuten müsste.

Etwas aber hielt sie noch ab von den Ferien am Meer: die Pflicht für ihr vereinsamtes, schwarzbraunes Huhn, das als Einziges alle Marderattacken in ihrem Garten überlebt hatte und das in ihren Augen deshalb ein besseres Schicksal verdiente, als ausgesetzt oder am drohenden, bitteren Ende gar auf dem Altar der Scheidung geopfert zu werden und als Suppenhuhn zu enden. Ein lebendes Huhn lässt sich nämlich weniger gut teilen als ein frisch grilliertes Poulet. Wer bekommt es? Kann man vor dem Richter auch für ein Huhn das gemeinsame Sorgerecht beantragen? Es gibt doch scheidungswillige Ehepaare, die sich hitzig um ihren Hund oder ihre Katze streiten. Hätten die Behörden auch ein Einsehen für Paare, die sich um ihr Federvieh streiten? Gäbe es ein gemeinsames Sorgerecht und wie würde es konkret verwirklicht? Ein Huhn würde es, im Gegensatz zu den pflegeleichten, flexiblen Kindern, vielleicht auf Dauer schlecht vertragen, ständig hin- und hergeschoben zu werden, und überhaupt, auf welcher Seite müsste es denn seine Eier legen? Könnte man es vielleicht so mit Mais und Käserinden dopen, dass es täglich ein Ei mit Doppeldotter legen würde, das sich redlich teilen liesse? Das wäre dann im wahrsten Sinne des Wortes das Gelbe vom Ei! Unsinn, Käserinden sind doch gar kein Hühnerfutter, meinen Sie? Sie irren! Das ist ihr Lieblingsfressen, sie kommen gleich nach den halbverfaulten Mäusekadavern, die die Katze verschmäht, und um die sich die Hühner im Garten streiten, sich ein regelrechtes Rennen liefern, bei dem das siegreiche Huhn mit der kostbaren Beute im Schnabel um die Haselnussbüsche kurvt, während die noch intakten Mausgedärme im Takt um seinen Schnabel schwingen. Sie finden das eklig? Mitnichten, Natur pur ist das und nennt sich auch umweltfreundliche Abfall- und Aasverwertung, sprich Bio-Futter! Übrigens, auch Blut ist biologisch und darauf sind Hühner noch schärfer als auf die scheusslich stinkenden, schmierigen Rinden von Rahmtilsiter oder auch auf die frischen, appetitlichen Ameiseneier. In dieser Hinsicht sind sie auch besonders gnadenlos und legen kannibalisches Verhalten an den Tag. So picken sie einer einzelnen Henne, die als Neuankömmling von der ersten Sekunde an grauenhaft gemobbt wird, zum Beispiel so lange die Federn am Hintern weg, bis der nackte Hintern blutet, der garantiert nie heilen wird. Deshalb sollte man auch nie versuchen, ein einzelnes Huhn in eine Gruppe mit längst etablierter Hierarchie zu integrieren.

Eine derartige Grausamkeit wollte ich dem Pflegehuhn, das noch nichts von seinem Schicksal als Scheidungswaise ahnte, natürlich keinesfalls antun, im Gegenteil, das Huhn, das wir liebevoll Putina nannten, weil die Freundin russischer Abstammung war, sollte zusammen mit unserer eigenen Survivor-Henne eine eigentliche Selbsthilfegruppe bilden. Unsere weisse Henne der Rasse Sussex, ein Name, den man in Frankreich mit Vorteil korrekt englisch ausspricht, die wir übrigens auf den arabischen Namen Baida’ getauft hatten, weil dies Weisse heisst, wobei dieses Wort beinahe gleich wie die arabische Bezeichnung für Ei, nämlich Baida, tönte und Nomen hier wirklich zum Omen wurde, unsere Henne also war nämlich seit wenigen Tagen ganz allein, da ihre beiden Kolleginnen einem streunenden Hund zum Opfer gefallen waren, der am helllichten Tag durch das aus Versehen offen gelassene Gartentor hereingestürmt war und sie in Sekundenschnelle totgebissen hatte. Leider ungestraft, aber bedacht mit den wüstesten Beschimpfungen unsererseits entkam er uns, und im ersten Moment glaubten wir, die weisse Henne sei auch tot. So lag sie nämlich im Gras, in meisterhaft gespielter Todesstarre, aber in Tat und Wahrheit noch lebend und, abgesehen von einem vorübergehend etwas lahmen Flügel, körperlich unversehrt. Von diesem Tag an verkroch sich die schwer Traumatisierte aber im Hühnerhaus, legte nicht mehr, frass nicht mehr, stellte sich im Schockzustand mit dem Schnabel zur Ecke und wäre am liebsten dort in einen Holzbalken geschlüpft. Putina, unser schwarzbrauner Feriengast und künftiger Zögling, war uns also nicht nur sehr willkommen, sondern wurde dringend gebraucht für den psychologischen Krisenstab!

Es ging dann auch nicht mehr als ein paar Tage und zu unserer Freude trug die intensive Gesprächstherapie Früchte! Baida und Putina streckten fröhlich gackernd den Kopf aus dem Hühnerstall, scharrten in trauter Zweisamkeit nach fetten Würmern und gönnten sich in ekstatischen Verrenkungen und mit halbgeschlossenen Augen ein Sandbad. Ihr kleines Hirn schien die Schreckensereignisse völlig vergessen zu haben. So vergingen die Sommermonate friedlich. Die Freundin hatte inzwischen die Scheidung eingereicht und übertrug mir im Einverständnis mit ihrem zukünftigen Ex-Mann endgültig das Sorgerecht für Putina. Die zwei Hennen legten wieder fleissig, frassen sich an den am Boden faulenden fermentierten Kirschen den Kropf voll, gackerten im Morgengrauen und hielten gleich beim Einnachten den Schnabel, wie es sich für ein anständiges Huhn gehört. Putina war ausserdem ausgesprochen zahm, liess sich völlig problemlos streicheln und herumtragen und begab sich in Begattungsstellung, kaum kam man in ihre Nähe. Natürlich rührte es daher, dass sie von den fünf quirligen Kindern der Freundin, die mit ihren Streichen Max und Moritz das Wasser reichen konnten, so allerhand gewohnt war, denn die Jungen hatten sie zum Spass ab und zu auch zum Kaninchen ins Gehege gesetzt, worauf dieses sie sehr rassentolerant besprang. Aber auch bei uns führte Putina mit Baida ein paradiesisches Hühnerleben, das sich noch über eireiche Jahre hätte hinziehen können, wäre nicht eines Nachts die Tür zum Hühnerstall mal wieder versehentlich offengeblieben …

Das erschreckte Gegacker hörte ich um 23 Uhr und mir war schlagartig klar, was los war. Ich riss die Haustür auf, hechtete mit lautem Geschrei über die Eingangstreppe, wobei ich beinahe über sämtliche vom Nachwuchs am Eingang verstreute Schuhe stolperte, und sah grade noch den buschigen Schwanz des Hühnerdiebes hinter der Hecke des Nachbarn verschwinden. Im Garten sah es aus, wie wenn Frau Holle in einem Anflug von Alzheimer ihre Daunendecken mitten in der Nacht ausgeschüttelt hätte. Baida aber lebte noch immer, etwas gerupft zwar, aber ausser Federn fehlte ihr nichts. Von Putina hingegen fehlte jede Spur, jedenfalls konnte ich in der Dunkelheit keine schwarzbraunen Federn ausmachen, folgerte aber, dass der Fuchs kurzen Prozess gemacht und sie dann gleich verschleppt hatte. Die geschockte Baida konnte keine Aussagen machen, geistig völlig erschüttert irrte sie im Garten umher und liess sich zu meinem Leidwesen nicht einfangen. Im Gegenteil, sie versteckte sich zwischen der Gartenmauer und dem Gartenhaus, wo der Zwischenraum nur handbreit war, und von wo ich sie unmöglich hervorzerren konnte. Ich versuchte, die Gestörte mit dem Besen hervorzujagen, aber das arme Tier schrie in langgezogenen Tönen so laut und so schrecklich, dass es eher an einen Menschen erinnerte als an ein Huhn. Ich fürchtete, die ganze Nachbarschaft und womöglich die Polizei auf den Plan zu rufen, und liess Baida schliesslich resigniert in ihrem Versteck, wohlwissend, dass dieses für ein Huhn selbstmörderisch war. Ich täuschte mich nicht. Am anderen Morgen lag Baida geköpft und mit steifen, gen Himmel gerichteten Füssen rücklings unterm Rosenstrauch. Als ich mich anderntags mit schlechtem Gewissen bei meiner Freundin für die grausame Verschleppung und den sehr wahrscheinlichen Hinschied von Putina entschuldigen wollte, meinte sie trocken, ihre Henne habe immerhin gelebt und geendet wie ein richtiges Huhn.

Copyright Anja Siouda

Dies ist eine von 53 Erzählungen aus dem Buch Tuttifrutti – Humoristische Erzählungen für jeden Geschmack von Anja Siouda. Der Erzählband erschien erstmals 2016 beim Verlag Pro Libro in Luzern, 2019 dann in einer Neuauflage als Buch und Ebook bei BoD. Die 53 Erzählungen sind unterteilt in zwölf Passionsfrüchte, zehn Zankäpfel, dreizehn Maulbeeren, neun Knacknüsse und neun Kichererbsen.

Foto vom Scheidungshuhn von Anja Siouda

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