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Ist hier noch frei?

Das Literaturfestival in den Bergen war gut besucht und das Programm ausgesprochen mannigfaltig. Zwei Tage lang spazierten die Zuhörer von einem Raum zum anderen, jeweils irgendwo im Dorf zerstreut, bald in einem Hotel, bald in einem Thermalbadbecken, bald in einem alten Bahnhof.

Zwischendurch gab’s auch einen literarischen Spaziergang über grüne Weiden, an Holzchalets vorüber, ja gar eine waghalsig steile Leiter hoch durch eine Schlucht. Ab und an setzte man sich ins Gras und lauschte dem jungen, sehr sympathischen Autor, der da gekonnt aus seinem Werke las, ein Werk, so frisch und spritzig wie er selbst, mit einem Humor, der sie sofort ansprach.

Der Autor war schon recht bekannt und sie fand, er verdiene es, sympathisch wie er wirkte und talentiert wie er schrieb und las.

Sein Buch würde sie sich garantiert kaufen, unten im Dorf, an der zentralen Stelle, wo alle Werke feilgehalten wurden. Mit einer gewissen Andacht würde sie an den Büchertischen vorbeilaufen, hie und da ein noch ganz neues Exemplar zur Hand nehmen, den typischen Geruch der Druckfarbe riechen, sachte darin blättern, es wieder zurück auf die Beige legen und sich ab und an verschämt vorstellen, es wären Exemplare ihrer eigenen Werke.

Am andern Tag hatte sie mit einer Freundin, die unten im Tal wohnte, auf einer Restaurant-Terrasse in der Nähe des Dorfplatzes abgemacht. Sie war viel zu früh da, störte sich aber nicht daran, setzte sich an einen freien Tisch und beobachtete zuerst eine Zeitlang die vier Personen am Tisch gegenüber, die angeregt diskutierten. Sie wusste, dass es das Organisationsteam des Festivals war. Am Tag zuvor hatte sie sich am Bücher- und Informationstisch nämlich durchgefragt, welches denn die verantwortlichen Personen waren. Sie hatte einen Plan gehabt und diesen dann auch ziemlich unverfroren ausgeführt. Sie hatte sich der Organisatorin gegenüber als Autorin geoutet, noch völlig unbekannt zwar, aber immerhin mit einem in ihren eigenen Augen gewissen Potential und einem Erstlingsroman. Die Organisatorin hatte den Roman entgegengenommen, wohl etwas peinlich berührt, aber höflich, denn üblicherweise verhandelte sie direkt mit Verlagen, die ihre umfangreichen und imposanten Pressedossiers anboten, nicht mit dahergelaufenen Autoren. Das natürlich sagte sie nicht. Eine derartige Schroffheit verbot die gängige Höflichkeit. Es waren allein die Gedanken der unbekannten Schreiberin.

Diese seufzte an ihrem Tisch, wandte den Blick geniert von dem Organisationsteam ab, das sich überhaupt nicht für die anderen Terrassenbesucher interessierte, und zog eine Zeitung aus der Tasche, obwohl sie eigentlich lieber in dem Buch des Autors weitergelesen hätte, dessen Lesung ihr so gut gefallen hatte. Sie schlug die Zeitung auf.

«Ist der Stuhl noch frei?»

Sie blickt auf. Wer hat denn gefragt? Der junge, sympathische Mann? Ach, wie nett und ach, was für eine unerhörte Fügung des Schicksals, der junge, sympathische Autor, in dessen Publikumsgruppe sie gestern mitspaziert ist, kommt an ihren Tisch und fragt, ob noch ein Platz frei ist!

Sie strahlt ihn an, setzt ihr warmherzigstes Lächeln auf, obwohl sie nun plötzlich Herzklopfen hat. Das ist ihr ein schöner Zufall! Gerade der, der sie gestern mit seiner humoristischen Geschichte zum Lachen gebracht hat, vor allem mit der Stelle, wo es um einen Paradiesapfel en miniature ging, genau der Autor will sich zu ihr an den Tisch setzen? Wie freut sie sich auf ein sicher nettes Geplauder, ein Gespräch mit dem Autor, von Du zu Du sozusagen, das heisst ja von Sie zu Sie, natürlich. Ein Gespräch über sein Schreiben, wofür sie sich sehr interessiert, ja, und vielleicht auch ein ganz kleines bisschen über ihr eigenes Schreiben, wofür sich noch kaum jemand interessiert. Noch kaum, das kann ja noch werden. Das Potential, Sie wissen schon, das spüren Sie doch auch, dass Sie es haben, nicht wahr? Wobei, nein, entschuldigen Sie bitte, Sie haben Ihr Potential ja schon längst ausgeschöpft, aber bestimmt nicht erschöpft. Sie lächelt. Wissen Sie, gestern, da war ich auf Ihrem literarischen Spaziergang mit dabei, natürlich, Sie erinnern sich nicht an mich, und ich finde es so toll, wie Sie aus Ihrem neuesten Roman vorgelesen haben.

«Ja, natürlich ist der Platz noch frei», sagt sie und hofft, die liebe Freundin, mit der sie abgemacht hat, finde ihre Autoschlüssel nicht und habe mindestens eine halbe Stunde Verspätung, besser noch, einen geplatzten Reifen.

«Danke», sagt der Autor, lächelt und zieht den Stuhl an den Tisch des Organisationsteams.

Dies ist eine von 53 kurzen Erzählungen aus «Tuttifrutti – Humoristische Erzählungen für jeden Geschmack“ von Anja Siouda, Neuauflage 2019, BoD, Buch und Ebook (Erstauflage, ProLibro Luzern)

Copyright Anja Siouda

Foto von Pixabay (Pexels)

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