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Das Froschauge

Das seltsame kleine, runde, leicht glänzende Ding fiel ihm sofort auf. Es war etwas ganz Fremdes, etwas, das es noch nie im Leben gesehen hatte. Und das konnte man also essen? Ja, das Ding musste essbar sein, sonst wäre es nicht auf dem Tisch mit all diesen anderen ungewöhnlichen Sachen, die es so üppig ausgebreitet noch nie gesehen hatte. Wie es wohl schmecken würde?

Das Mädchen schnupperte ein bisschen daran, aber allzu nahe konnte es nicht an den Tisch mit seiner Nase, das wäre unanständig gewesen, und einen starken Geruch konnte es von Weitem nicht erkennen. Es liess es also vorerst beim Anschauen. Und zum Anschauen gab’s auch sonst genug! Der Tisch war nämlich eine richtige Tafel, extra von einem professionellen Koch für das Quartiersommerfest offeriert, wie die Eltern dem Mädchen erklärt hatten, mit beeindruckend vielen verschiedenen Esswaren, vor allem mit vielen verschiedenen belegten Brötchen und zudem geschmückt mit Früchten wie Ananas, Bananen, Äpfeln, Pfirsichen, Kirschen und Erdbeeren. Die Ananas, doch, die kannte es. Jeweils an Weihnachten bekam sein Vater als technischer Beamter der Gemeinde einen Geschenkkorb von irgendeinem Unternehmen und so eine kostbare, zuckersüsse Ananas war stets dabei. Sonst aber kamen, von den Bananen abgesehen, bei dem Mädchen zuhause keine exotischen Früchte auf den Tisch, dafür umso mehr heimisches, ja aus dem eigenen Garten des Vaters stammendes Gemüse!

Das Schlimmste waren die Randen, immer wieder Randen! Wie es sie hasste, diese ekligen Wurzelknollen, die roh geraffelt als Salat wie Holzspäne gemischt mit Erde schmeckten. Blutreinigend seien sie und krebsvorbeugend, aber dafür hasste es sie nur umso mehr, wenn es noch lange am Tisch sass, bis es seine obligatorische Portion endlich zerkaut und runtergewürgt hatte. Anders ging es ihm zum Glück mit dem Vollkornbrot, das seine Eltern zwar nicht selber buken, dafür aber alle paar Wochen per Karton ins Haus liefern liessen, wo sie die Reserve jeweils in den Tiefkühler legten. Das später wieder aufgetaute Brot war also nie so knusprig frisch wie das Weissbrot der Nachbarskinder aus der Bäckerei, aber immerhin war es essbar, im Gegensatz zu den Randen. Und zudem liess sich mit den Nachbarskindern manchmal ein guter Tausch machen. Ein Stück Weissbrot gegen ein Stück Vollkornbrot und es war eine Win-Win-Situation, da die Nachbarskinder zu des Mädchens Verblüffung sein für sie ungewöhnliches und seltenes Vollkornbrot leckerer fanden als ihr tägliches Weissbrot.

Brot ass das Mädchen damals, Anfang der 70er-Jahre, sowieso ziemlich viel, denn die oft wiederholte Devise der Mutter lautete: Wenn du Hunger hast, iss ein Stück Brot. Eine sehr vernünftige und gesunde Devise aus der Sicht der Erwachsenen, aber manchmal auch eine etwas frustrierende, wenn das Mädchen sah, wie die nette Tagesmutter, bei der es hie und da gehütet wurde, weil seine eigene Mutter arbeitete und weil die Tagesmutter zudem die Mutter seiner besten Schulfreundin war, jeden Tag einen selbstgebackenen Kuchen auftischte und man sich im Kühlschrank ungefragt mit Limonade bedienen durfte, die es beim Mädchen zuhause nie gab. Was griff es dort herzhaft zu, auch beim Mittagstisch, nicht nur beim süssen Zvieri, und wie freute sich die Tagesmutter über seinen Appetit, da ihr eigenes Töchterchen spindeldünn und jede Mahlzeit ein halbes Drama war, weil sie nichts essen mochte. Das Einzige, was die Tochter wirklich regelmässig ass, waren Fruchtjoghurts, weil sie die leeren Becher sammelte und sie ineinandergeschachtelt in einer endlos langen Schlange hinter dem Kanapee in der Nähe vom Stubenfenster hortete. Auch etwas anderes sammelte sie noch: Schokoladeosterhasen in allen Grössen, die sie als Nesthäkchen an Ostern von ihren Verwandten geschenkt bekam, die sie aber nie ass, sondern unter ihren Kleidern in den Schubladen und im Schrank versteckte, damit ihr sehr viel grösserer und älterer Bruder, eine richtige Bohnenstange mit Schnauz, sie nicht finden konnte. Lieber liess sie die Schokolade vergammeln. Das Mädchen fand es schade um die verdorbene Schokolade. Ihm selbst wäre das natürlich nicht passiert, es verputzte die Schokolade immer gleich, wenn es welche geschenkt bekam.

Am Geburtstag zum Beispiel, aber an jenem Tag bestand der Höhepunkt sowieso nicht in der Schokolade, sondern im Blumenkohl, seinem Lieblingsgemüse, das seltsamerweise und ganz im Gegensatz zu den grässlichen Randen im Garten des Vaters nicht gedieh und das es sich jeweils von der Mutter zu seinem Ehrentag wünschte. Übergossen mit reichlich zerlassener Butter und leckeren Bröseln aus geröstetem Paniermehl! Dieser weichgekochte, zarte Blumenkohl, der dem Mädchen so richtig auf der Zunge zerging, liess es die erdig-holzigen, blutroten Randenknollen eine Weile vergessen.

Kein Wunder, dass der Blumenkohl viel besser schmeckte, er trug ja auch einen viel appetitlicheren Namen als die unscheinbaren Randen, fand das Mädchen und fragte sich nun erneut, wie das seltsame grüne Ding auf der Tafel, bei dem ihm vor allem wegen der roten Füllung im runden Loch als einzig treffende Bezeichnung «Froschauge» in den Sinn kam, wohl tatsächlich hiess und wie es denn schmeckte. Es griff also doch beherzt nach dem Zahnstocher, der darin steckte, und schob sich eines dieser rätselhaften Dinger in den Mund. Zum Kauen war es eher weich, doch fester als eine Kirsche, aber der Geschmack war mit nichts Bekanntem zu vergleichen: Sauer und sonderbar und ein bisschen ölig, aber immerhin, mit den Randen konnten es die «Froschaugen», die die Mutter später als Oliven entlarvte, durchaus aufnehmen.

Dies ist eine von 53 kurzen Erzählungen aus «Tuttifrutti – Humoristische Erzählungen für jeden Geschmack» von Anja Siouda, Neuauflage 2019, BoD, Buch und Ebook (Erstauflage, ProLibro Luzern)

Copyright Anja Siouda

Foto von Kaboompics .com bei Pexels

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