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20 November 2019
José
3 Dezember 2019

Wenn Freiheit ein Fremdwort ist

Rezension zum Roman «Entscheidung» von Evelina Jecker Lambreva

Dieser vor kurzem bei Braumüller erschienene Roman der bulgarisch-schweizerischen Autorin Evelina Jecker Lambreva lässt einen nicht kalt. Er zeigt sehr eindringlich und äusserst anschaulich, wie die Verhältnisse im Bulgarien der achtziger Jahre und um die Wende herum waren, dass Freiheit in jeder Hinsicht ein Fremdwort, dass die Misere im Volk gross war, dass es an allem Möglichen mangelte: an Medikamenten, medizinischen Einrichtungen, an fliessendem Wasser in Kliniken und Wohnhäusern, an Lebensmitteln und gar an Schuhen, die nicht aus gepresstem Karton hergestellt waren.

Die Heldin Anja ist Landärztin

Die junge Heldin Anja ist Landärztin im bulgarischen Svescht, wo sich die Füchse und die Hasen im wahrsten Sinne des Wortes gute Nacht sagen. (Diesen Ort gibt es übrigens nicht, erklärte die Autorin an ihrer jüngsten, sehr gut besuchten Lesung in der Stadtbibliothek Luzern). Anja wird als von der Universität in Varna frisch diplomierte Ärztin ohne jede praktische Erfahrung dazu verpflichtet, zuerst drei Jahre in einem Dorf zu arbeiten, bevor sie überhaupt nur an eine Weiterbildung denken kann. Eigentlich möchte sie sich zur Frauenärztin ausbilden lassen, aber im gottverlassenen Svescht besteht dazu keine Gelegenheit. Nach anfänglicher Mühe mit den Verhältnissen im Dorf und den Bewohnern, die ihr teilweise sehr feindselig gesinnt sind, allen voran der mächtige Genosse Nakov, der Vorsitzende der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, findet sie doch Freunde und Verbündete. Zum Beispiel den Krankenwagenchauffeur Kiro und seine Frau Malina, wie auch die erfahrene Dorfkrankenschwester Zarah, die Hebamme Angelina und Dora, die Lehrerin für bulgarische Sprache. Auch an ein Kind aus dem Kinderheim, die kleine Maria, die seit Jahren darauf wartet, dass ihre Mutter sie abholt, hängt Anja mit der Zeit ihr Herz, sowie an einen kleinen Kater, Topsy, der ihr im Bett etwas Wärme bringt, da ihr Freund Michail, ebenfalls Arzt, weit entfernt von ihr arbeitet und weil die beiden sich deshalb nur selten sehen können.

Vom Staat gemachte Missstände

In ihrer Rolle als Ärztin lastet die Verantwortung schwer auf ihr, denn sie verfügt nicht über die nötige materielle Ausrüstung und ausserdem wird ihre Arbeit durch irrwitzige administrative Vorschriften so schwer behindert, dass ihre kostbare und lebensrettende Intuition für das Erkennen von Notfällen manchmal vom Amtsschimmel zu Tode getrampelt wird. Alle Missstände sind vom Staat verursacht, aber es werden wann immer mögliche einzelne Sündenböcke dafür verantwortlich gemacht.

Erschreckend wird gezeigt, wie wichtig Beziehungen zu parteitreuen Genossen sind. Wie viele Privilegien es für «Aktive Kämpfer gegen Faschismus und Kapitalismus» gibt, wie absolut ungerecht es zu und her geht. Auch Alkoholmissbrauch und die Gewalt gegenüber Kindern im Kinderheim, in den Familien und in der Schule, ständiger Neid und Egoismus im Dorf werden drastisch beschrieben. Auch der Rassismus gegenüber Zigeunern wird dargestellt.

Sehr passendes Cover

Das Cover, auf dem das Foto einer Freundin der Autorin zu sehen ist, ist sehr passend. Drückt es doch auf den ersten Blick die ganze Trostlosigkeit im Dorf und insbesondere im Kinderheim aus. Bestimmt steht es auch für die Bulgaren, die jahrzehntelang «aus dem Fenster» sehnsüchtig zum Westen hin blickten, während sie in ihrem eigenen Land in desolatem Zustand ausharrten. Und es steht für Glasnost und Perestrojka, die von Gorbatschew initiierten Neuerungen. «Perestrojka bedeutet ‘Umbau’ und Glasnost soviel wie ‘Transparenz’ von Missständen», erklärt Anja (Seite 83).

Es entsteht ein Fenster zur Wende, aber trotz der Öffnung wird die Wende bis heute nicht vollständig umgesetzt. Das zusätzliche Gitter vor dem Fenster zeigt, dass die Bulgaren noch immer gefangen sind. Etwa 10 % der früheren Geheimdienstmitarbeiter sind weiterhin im Amt, sagte die Autorin an ihrer Lesung.

Eine politische Wende geschieht einfach nicht auf Knopfdruck. So erklärt Michail einmal: «Was können die Dorfbewohner mit Meinungsfreiheit anfangen, wenn sie ja noch nie eine eigene Meinung hatten, wenn sie gar nie gelernt haben, etwas anderes zu denken als das, was ihnen die Kommunistische Partei vorgibt.» (S. 93) Tatsächlich beginnt die Indoktrination schon im zarten Kindesalter. Kleinen Mädchen wie Maria im Kinderheim wird z.B. mit einem «Imperialistenkind» (S. 162) gedroht, das den Kindern alles Leckere stehlen würde, weshalb es galt, besonders Desserts möglichst schnell aufzuessen.

Sich gegen den Geheimdienst entscheiden

Der Titel ist sehr treffend gewählt, geht es in diesem Roman doch vor allem darum, dass sich die Protagonistin Anja stets dagegen entschieden hat, sich den kommunistischen Genossen zu unterwerfen und sich als Geheimdienstagentin engagieren zu lassen, obwohl ihr dies Tür und Tor für eine glänzende Arztkarriere geöffnet hätte. «Das also war der Königsweg, um in den Westen und nach Paris zu gelangen», erkennt Anja (S.114). Aufgrund ihrer guten Fremdsprachenkenntnisse – sie war auf dem französischen Sprachgymnasium in Varna – wäre sie eine ideale Kandidatin gewesen. Genau wie der Vater der Autorin, wie diese an ihrer jüngsten Lesung betonte. Ihr eigener Vater, der perfekt Deutsch konnte, hat sich immer geweigert, dem Geheimdienst zu dienen. Deshalb wurden er und seine ganze Familie als Faschisten und Kapitalisten verschrien, als Feinde des bulgarischen Volkes, als Landesverräter. Schon im Roman «Vatersland» von Evelina Jecker Lambreva, der stark autobiographisch geprägt ist, kommt diese Thematik zum Ausdruck. (siehe meine Rezension über «Vatersland» in der entsprechenden Blogkategorie )

Schrecklich sind dieses ständige Sich-Wehren-Müssen gegen den Geheimdienst und dieses ganze Misstrauen, das der kommunistische Staatsapparat unter den Menschen säte, sodass sie nie jemandem trauen konnten, weil niemand genau wusste, wer ein Agent im eigenen Volke, wer zum Bespitzeln «auserkoren» worden war: in der Primarschule schon, im Job, in der eigenen Familie, im Freundeskreis.

Die Angst vor dem Geheimdienst führt auch zur Selbstzensur. So verbrennt Anja nach der Absage an Nakov im Kamin ihres Zimmers den Roman «1984» von George Orwell, den sie vor Jahren am Strand des Schwarzen Meeres, von westlichen Touristen zurückgelassen, gefunden hatte.

Unmöglichkeit, spontan auf andere Menschen zuzugehen

Das Erschreckendste im ganzen Roman ist in meinen Augen die Unfreiheit im eigenen Land, die sich ja nicht nur auf das Verbot von Reisen ins Ausland, in den kapitalistischen Westen, bezog (wer leicht ein Visum bekam, war als Gegenleistung bestimmt zum Spitzeln verpflichtet worden), sondern auch darauf, unvoreingenommen und unbeschwert auf andere Menschen zugehen zu können. Die Freiheit, eigene Beziehungen nach Lust und Laune zu pflegen, sie nicht von politischer Gesinnung, von Parteitreue, von Gegenleistungen abhängig zu machen. Gelang es beispielsweise jemandem, in den Westen zu fliehen, wurden alle Freunde und die Familienmitglieder einer solchen abtrünnigen Person gleich mitverdächtigt, alles über die geplante Flucht gewusst zu haben.

Der Roman liest sich insgesamt spannend, ja er spitzt sich gegen Ende hin dramatisch zu, und hie und da begegnen einem kurze poetische Beschreibungen, wie schon im Roman «Vatersland».  Bereits der Anfang gefällt mir persönlich sehr gut: «Das hier soll ihr Zuhause werden? Ein kleines, hellbraun gestrichenes Haus am Hang. Es hockt da wie ein alter Steinpilz und schaut verschlafen auf die alte, kurvige Landstrasse herunter.» (S. 7) Eine weitere schöne Stelle ist die Beschreibung von Michail: «Sie sah sein Lächeln vor sich, seine Augen in der Farbe von blühendem wilden Pfefferminz»(S. 56). Auch die Dorfbeschreibung im Winter gefällt mir: «Svescht versank langsam unter einer dicken Zotteldecke, die das ganze Tal einhüllte. Wie aus handgestrickter Spitze umsäumten verschneite Äste die Decke über dem Dorf, und die vom Schnee gepuderten Sträuche verzierten sie wie kunstvolle Puschel.» (S.97) «Der Frühling duftete aus der Erde, aus jeder aufgegangenen Knospe, aus jedem jungen Grashalm.» (S. 142)

Nachdem die Beziehung zu Michail in die Brüche gegangen und die Visumspflicht weggefallen ist, schafft es Anja tatsächlich auf eine kleine Reise nach Paris, wo sie eine schicksalshafte Begegnung macht. Wird es ihr gelingen, nach fast zwei Jahren die Dorfbewohner von Svescht zu verlassen, von denen ihr am Ende doch viele ans Herz gewachsen sind, um sich im Westen ihren langersehnten Traum von einer Arztkarriere zu erfüllen?

Foto Yassin Siouda

5 based on 3 reviews

6 Comments

  1. Christine Ruch sagt:

    Das einfühlsame Buch von Evelina Jecker Lambreva wird in dieser Rezension treffend beschrieben. Die Beschreibung von Bespitzelung und der dadurch entstehende Argwohn unter den Menschen im ehemaligen Bulgarien ist erschütternd. Mich hat das Buch aufgewühlt und die Zustände und die kommunistischen Zwänge waren lange Gesprächsstoff in unserer Familie. Ich möchte das Buch gerne weiterempfehlen, denn es ist ein Teil unserer europäischen Geschichte, die im Osten vor unseren Augen stattgefunden hat, ohne dass wir gross Kenntnis davon genommen hätten.

  2. Barbara Traber sagt:

    Liebe Evelina, ich bin leider bisher nicht dazu gekommen, Dir zu Deinem neuen Roman zu gratulieren, wollte es in den nächsten Tagen unbedingt tun und freue mich jetzt sehr, dass Anja Siouda eine solch treffliche Rezension geschrieben hat, die ich voll unterschreiben kann. Dein Buch hat mich sehr berührt, und ich habe wieder einmal festgestellt, dass wir Schweizerinnen kein «Schicksal» haben wie Autorinnen aus ehemaligen Ostblockländern. «Entscheidung» ist auch ein wichtiges Zeitdokument und hilft, Bulgarien besser zu verstehen. Herzliche Gratulation!

    • Anja Siouda sagt:

      Liebe Barbara, herzlichen Dank für deinen wunderbaren Kommentar bzw. deine Nachricht an Evelina! Es freut mich sehr, dass du von Evelinas Buch auch so berührt warst wie ich!

  3. Evelina Jecker sagt:

    Ganz herzlichen Dank, liebe Barbara!😍

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