Neulich radelte ich mal wieder beim schönsten Sonnenschein durch die idyllische Genfer Landschaft nah der französischen Grenze. Eigentlich vor meiner Haustüre! Denn es sind nur wenige Velominuten von unserem Haus in Frankreich bis in die Schweiz. Ich liebe diese Velofahrten schon seit mehr als zwanzig Jahren nun, seit wir unser Kleinod, ein bescheidenes Haus mit Garten, erbaut 1957, hier im Ausland gefunden haben. Velofahren ist pures Glück für mich! Wie oft denke ich mir auf meinem Stahlesel Szenen in meinen Romanen aus oder mache mir im Kopf Notizen für meine Blogtexte. So auch für den heutigen.
Oftmals danke ich beim Radeln auch dem Schutzengel, der mein Leben lang über mich und meine Lieben wachte. Gerade in diesen Tagen, wo die Geschehnisse auf der Welt wieder besonders grauenvoll Schlagzeilen machen, muss ich daran denken, was für ein friedliches Leben ich, per Zufall Mitte der sechziger Jahre in der Schweiz geboren, bis jetzt hatte! Weder ich, noch meine Schweizer Eltern, noch meine Schweizer Grosseltern waren je ganz direkt vom Krieg betroffen. Es gab bei uns keine traumatisierten Soldaten, keine im Krieg gefallenen Verwandten. Allerhöchstens erzählte man uns von den rationalisierten Nahrungsmittelmarken oder von der Mobilmachung meines Grossvaters in einer Bautruppe. Meine Grossmutter mütterlicherseits war nämlich 1921 geboren, mein Grossvater 1909. Der Krieg war aber für uns Enkel nie ein Thema!
Ganz anders ist es für die Franzosen hier. Überall gibt es Mahnmale zu Ehren von Kriegsgefallenen, Strassennamen im Zusammenhang mit den Weltkriegen, in bestimmten Regionen natürlich auch die beeindruckenden, riesigen Soldatenfriedhöfe mit den schlichten weissen Kreuzen. Ein heute verstorbener Nachbar war sechs Jahre in Kriegsgefangenschaft in Russland und als er nach Kriegsende zurückkam, fragte seine kleine Tochter, die heute 80-jährige Nachbarin: «Mutter, wer ist der fremde Mann?» Dieser Fremde stellte bei der Gemeinde den Antrag, den Platz, an dem sein Haus stand, nach dem Datum des Kriegsendes umzubenennen: 8 mai 1945.
Ein anderer lieber Nachbar wurde Anfang der sechziger Jahre wie viele andere als blutjunger Soldat nach Algerien zum Militärdienst in der Wüste geschickt. Ich weiss nicht, ob er Traumatisches erlebt hat, so etwas kann man als Nachbarin nicht ohne weiteres fragen. Vielleicht möchte ich es lieber auch nicht wissen. Ich vermute, dass er doch eher einen ruhigeren Dienst verrichten konnte. Gurken und Wassermelonen kann er seither nicht mehr sehen und er erinnert sich noch an das besondere Reptil, das er aus der Wüste als lebendiges Souvenir nachhause gebracht hatte, wie er mir erzählte. Jedenfalls ist es schön, wenn er von seinen Gartenbeeten aus jeweils meinem geschwächten algerischen Schwiegervater auf seinem Liegestuhl zuwinkt und sich bei mir nach seiner Gesundheit erkundigt.
Ich habe auch deutsche Freundinnen hier. Wenn sie in den Fünfzigern sind wie ich, können sie von Kriegstraumas unter ihren älteren Verwandten erzählen, die manchmal bis heute nachwirken. Es gibt auch solche, die teilweise noch in der ehemaligen DDR aufgewachsen sind.
Für meinen algerischen Mann waren die Erzählungen des Kriegs von Seiten seiner Eltern ebenfalls immer sehr präsent und furchterregend. Beide hatten den algerischen Unabhängigkeitskrieg als junge Menschen auf dem Land hautnah erlebt. Da gab es eine grosse Angst, insbesondere bei den jungen Frauen im Dorf, vor den Gräueln der französischen Soldaten, denen sie zum Glück nicht zum Opfer fielen.
Wenn ich allerdings einiges weiter zurückschaue in meiner Ahnenreihe, nämlich zu meinem Urgrossvater mütterlicherseits, so spielt das Thema Krieg doch eine grundlegende Rolle! Der Vater meiner Grossmutter war nämlich ein aus Württemberg stammender Deutscher, der im 1. Weltkrieg verletzt und danach lange in einem Lazarett behandelt wurde. Von seinen Verletzungen, ob von physischen oder psychischen, hat er sich nie erholt. Er starb am 15. Januar 1921, kurz bevor meine Grossmutter Ida am 29. Januar das Licht der Welt erblickte. Sie hat ihren Vater nie gekannt.
In einer Aufnahme vom 4. Januar 2001, die mein Onkel Edwin Schmid (ihr ältester Sohn) anlässlich ihres 80. Geburtstages machte, erzählt meine inzwischen verstorbene Grossmutter Ida Schmid-Baur darüber folgendes:
Audioaufnahme mit freundlicher Genehmigung von Edwin Schmid:
Erinnerung an meine Grossmutter (früherer Blog)
Copyright Anja Siouda 17.08.2021
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