Sehr persönlich und anregend
7 Februar 2025

Meine Mutter, die Hexe und ich

Für alle, die (noch) keine Stimme haben, lautet die Widmung, die die Autorin der Erzählung voranstellt.

Eigentlich weiss ich zuerst gar nicht, was ich nach der Lektüre dieses schmalen, aber eindrücklichen Buchs, das ich in einem Zug gelesen habe, sagen soll. Ich bin einfach nur erschüttert über diese Kindheit und diese Jugend!

Die Schweizer Autorin meiner eigenen Generation, die nur wenige Jahre älter ist als ich, und die bereits andere Bücher unter ihrem Geburtsnamen veröffentlich hat, publiziert diese autobiographische Erzählung unter dem Pseudonym Assuntina Spina. «Spina» heisst Rückgrat! Und Rückgrat braucht es, um an so einer Kindheit nicht zu zerbrechen und sein Leben zu meistern!

Erzählung aus der Perspektive der kleinen Adelina

Die Autorin erzählt aus der Perspektive der kleinen Adelina, die am Anfang des Buches im Kindergartenalter ist und zusammen mit ihrer Mutter und ihrer grossen Schwester Giulia und ihrem Meerschweinchen Mickey in einer Basler Genossenschaftssiedlung lebt. Die Eltern von Adelina sind geschieden, die Grosseltern väterlicherseits, die Nonna und der Nonno, wohnen nur wenige Schritte weit entfernt. Es gibt zum Glück auch die Oma mütterlicherseits, einen lieben Götti, den Bruder der Mutter, und in der Primarschule die treue Schulfreundin Sabine.

Von 1970 bis 1980 beschreibt die Autorin auf berührende Weise ihre Kindheit und Jugend. 10 lange bange Jahre, vom Kleinkind bis zum aufmüpfigen Teenager, während denen Adelina geradezu Überlebensstrategien entwickeln muss und doch immer wieder hofft, dass alles gut wird, dass die krankhaft launische Mutter trotz ständigem Liebespartnerwechsel einen Mann findet, mit dem sie alle friedlich und fröhlich zusammenleben, ein Leben führen wie andere Familien auch …

Eine Kindheit geprägt von Angst, Gewalt und Hunger

Eine Kindheit geprägt von Angst, Gewalt, emotionaler Erpressung, Lügen, Manipulation und Hunger! Hunger hat Adelina, weil die eigene Mutter, die sich an ihren freien Tagen lange Stunden im Zimmer einschliesst und schläft, selten bis gar nie etwas kocht und auch der Kühlschrank meist nur Vergammeltes oder gar nichts enthält. Und weil dem Kind sogar das Geld für eine Büchse Ravioli oder ein Brot fehlt. Umso tüchtiger greift es dann jeweils zu, wenn ausnahmsweise die Oma kocht oder die Mutter einer Schulfreundin.

Das Schlimmste aber ist die Erfahrung, dass sich die eigene Mutter, die Adelina trotz aller Misshandlungen liebt, von einer Sekunde zur anderen in eine Hexe verwandeln und sie manchmal geradezu in Todesangst versetzen kann. Es ist ein sehr anschauliches Bild einer Mutter mit einer gespaltenen Persönlichkeit, deren Kinder ihren total unberechenbaren und manipulativen Stimmungsschwankungen und Schuldzuweisungen ausgesetzt sind, weil jahrelang niemand richtig eingreift, obwohl die Nachbarin immer mal wieder an der Tür klingelt, wenn es ihr zu laut wird und auch mehrmals die Polizei vorbeikommt.

Während all diesen schrecklichen Jahren und bis zum nahezu mörderischen Höhepunkt mütterlicher Gewalt gibt es zum Glück auch seltene kleine Lichtblicke: Ferien mit dem lieben Götti oder den Eltern der Schulfreundin, Ausflüge mit dem Sonntagsvater, Mittagessen bei den Grosseltern. Und da ist die grosse Schwester Giulia, die Adelina immer wieder vor der Mutter zu beschützen versucht und ihr die Welt erklärt, bis sie endgültig wegzieht. Da Giulia merklich älter ist, durchschaut sie die Mutter bereits und revoltiert. Zu diesem Punkt gelangt Adelina erst gegen Ende des Buches, als sie selber eine Jugendliche ist, die Manipulation nicht mehr zulässt und sich ihre Freiheit erkämpft. Trotzdem lebt sie lange in einem Loyalitätskonflikt, hat immer wieder Mitleid mit der Mutter. Doch im überraschenden Epilog hat die nun erwachsene Adelina endlich das Zepter in der Hand. Die Hexe ist besiegt. Etwas Neues, Positives keimt für kurze Zeit.

Im Klappentext erklärt die Autorin: «Dieses Buch verurteilt nicht. Es erzählt stattdessen vom Sieg der Liebe und Zärtlichkeit über Dysfunktionalität und Gewalt».

Sehr überzeugend schreibt die Autorin aus der Perspektive des Kindes, das sie einmal war. Die kleine Adelina, die damals keine Stimme hatte, erhebt sie in dieser Erzählung eindringlich. Hoffentlich kann sie damit anderen Betroffenen bewusst machen, dass Mütter, die sich in Hexen verwandeln, an psychischen Erkrankungen leiden, und dass sie selbst wie auch ihre Kinder professionelle Hilfe brauchen.

Assuntina Spina, Meine Mutter, die Hexe und ich, BoD, März 2025

Leseprobe

Rezension von Anja Siouda 10. März 2025

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