Ein autobiographischer Roman von Usama Al-Shamani
Der irakische Autor und ehemalige Flüchtling Usama Al-Shamani (geboren 1971 in Bagdad) versucht, in diesem autobiographischen Roman das Verschwinden seines viel jüngeren Bruders Ali zu verarbeiten. Gleichzeitig schildert er sein eigenes Ankommen in der Schweiz im Jahre 2002, die interkulturellen Unterschiede, sein früheres Leben im Irak mit persönlich prägenden Erinnerungen aus seiner Kindheit und Jugend und seine Entdeckung der (Schweizer) Natur, wo ihm vor allem Bäume aber auch Berge Trost spenden.
Das Trauma vom verschwundenen Bruder
Obwohl Usama Al-Shamani, der in seiner Heimat arabische Sprache und Literatur studierte, es nach anfänglichen Schwierigkeiten, ja wahren Durststrecken, schafft, sich in der Schweiz beruflich und privat eine neue Existenz aufzubauen – er findet Arbeit und gründet eine eigene kleine Familie mit Frau und Kindern–, scheint das Trauma des Verschwindens seines Lieblingsbruders lange unüberwindbar, genauso wie die Zerrissenheit zwischen der alten und der neuen Heimat.
Die alte Heimat, den Irak mit seinem Alltag, seit Jahrzehnten geprägt von Krieg, amerikanischer Besetzung, Terrorismus und Willkür, beschreibt Usama Al-Shamani eindrucksvoll. Uns Schweizern wird wieder einmal sehr anschaulich bewusst, was für eine in Watte gepackte Existenz wir haben, da wir seit Lebzeiten in keinen Krieg verwickelt waren. Für Usama Al-Shamani aber ist Krieg schon seit seiner Kindheit Realität, da sein Vater Anfang der neunziger Jahre, als der Irak Kuwait angriff, mehrere Jahre als Soldat einrücken musste und zum Beispiel nicht einmal die Geburt seines Sohnes Ali abwarten durfte.
Al-Shamani gibt uns einen Einblick in die jüngere Geschichte des Iraks, die wir ja meistens nur aus Berichten, oftmals über Attentate, in den Medien kennen. Und wie schnell vergessen wir solche Berichte wieder, es sind für uns abstrakte und allzuoft gehörte Informationen über das ferne Unglück im Nahen Osten.
Er gibt den Menschen im Irak ein Gesicht
Aber es sind Menschen, die diese jahrelange Unfreiheit, diesen Terror und auch alle materiellen Einschränkungen erleben müssen und diesen gibt Al-Shamani über seine eigene Familie und seine Freunde ein Gesicht. Gleichzeitig legt er damit der westlichen Leserschaft dar, warum manche aus dem Irak flüchten wie er selbst es tat.
Immer wieder kreisen Al-Shamanis Gedanken um Alis Verschwinden und auch um sein eigenes Schuldgefühl, weil es ihm als Asylsuchender auf oftmals vergeblicher Arbeitssuche nicht gelungen war, das Fluchtgeld für seinen Bruder zu beschaffen. Der Druck der Familie, insbesondere der Mutter, die jahrelang am Verlust ihres jüngsten Sohnes leidet, trägt natürlich auch nicht zur Gewissensberuhigung des Autors bei.
Da einzelne private Telefongespräche und Mails aus der Erinnerung abgerufen werden, lässt sich vermuten, dass Al-Shamani all diese Details vielleicht vor Jahren schon in einem Tagebuch festhielt, wie um sich selber zu bestätigen, dass er auch wirklich alles in seiner Macht Stehende für seinen verschwundenen Bruder versucht hat.
Witzige und lehrreiche interkulturelle Vergleiche
Oftmals witzig und auf jeden Fall lehrreich sind seine interkulturellen Vergleiche zwischen Gepflogenheiten in der Schweiz und im Irak. Wenn es die arabisch muslimische Kultur betrifft, kommt mir dabei einiges bekannt vor, da ich seit 33 Jahren mit einem waschechten (sunnitischen) Algerier verheiratet bin, aber natürlich überraschen auch mich spezifisch irakische (schiitische) Sitten.
Es freut einen zu lesen, dass Usama Al-Shamani in der Schweiz oftmals grossem Vertrauen, grosser Hilfsbereitschaft, Offenheit und Toleranz begegnet ist. Charakterzüge, die natürlich nicht nur den Schweizern vorbehalten sind, sondern ebenfalls für die Iraker gelten, wenn sie sich in einem Klima von Freiheit und Frieden entfalten und an der Verwirklichung ihrer Träume arbeiten können. Der Autor ist ein blühendes Beispiel dafür!
Emotional berührend
Gegen Ende hin berührte mich das Buch auch emotional, denn der Autor beschreibt, wie er nach vielen Jahren im Exil in der Schweizer Natur sozusagen die Nähe zu seinem verlorenen Bruder wiederfindet und somit endlich zum eigenen Seelenfrieden.
Seine Flucht spart der Autor im Roman übrigens bewusst aus, da sich bei ihm bei diesem Thema eine Leere ausbreitet, wie er selbst schreibt.* Als Schriftstellerin vermute ich, dass er diese eines Tages vielleicht in einem anderen Roman und über eine andere Figur als sich selbst verarbeiten wird …
Oftmals entsteht ja gerade aus dem selber erfahrenen Leiden die eindringlichste Kunst.
Usama Al-Shamani lebt heute als freier Autor, Kulturvermittler, Dolmetscher und Übersetzer in der Schweiz, wie beim Limmatverlag nachzulesen ist.
*«Bei manchen Menschen, die mich nach meiner Flucht fragten, schien die Flucht an sich eine Art Faszination auszulösen, während sich in mir selbst eine Leere auszubreiten begann.» (In der Fremde sprechen die Bäume arabisch, Usama Al-Shamani, Ebook, Position 308, Kapitel Baum der Hoffnung)
Rezension von Anja Siouda, 13. Oktober 2020
Usama Al-Shamani, In der Fremde sprechen die Bäume arabisch, Limmatverlag 2018 , ISBN 978-3-85791-859-9
Blog-Foto (Baum) von Felix Mittermeier (Pexels)