Im Jahr 2001 hatte die Schweiz das Schengen-Abkommen noch nicht unterzeichnet. Als wir als Schweizer offiziell von der Schweiz nach Frankreich zogen, mussten wir uns deshalb als Nicht-EU-Bürger einem obligatorischen Tuberkulosetest unterziehen. Dieser fand im öffentlichen Spital statt, man wurde geröntgt und wartete danach drei Stunden zusammen mit vielen anderen Neuankömmlingen, die gleichzeitig wie wir das Aufgebot bekommen hatten und ebenfalls aus einem Land angereist waren, wo ein Risiko medizinischer Unterversorgung bestand, bis die Ärztin jeden einzelnen über die Resultate des Tests aufgeklärt hatte. Diese Ärztin ist uns immer in sehr positiver Erinnerung geblieben, weil sie trotz des Andrangs und des Murrens der Wartenden für jeden nicht nur ein warmherziges, strahlendes Lachen, sondern auch noch eine ehrliche Entschuldigung für das in ihren Augen mangelhaft organisierte Prozedere und die lange Warterei bereithielt.
Es stellte sich dann zufällig heraus, dass wir gesund waren und keine weiteren medizinischen Untersuchungen nötig waren – abgesehen für den Fahrausweis. Da wir unseren Schweizer Fahrausweis nämlich gegen einen französischen umtauschen mussten, wurden wir etwas später von der Unterpräfektur vorgeladen, wo ein Arzt uns zwar nicht auf Herz und Nieren prüfte, aber immerhin unsere Augen, unsere Ohren und unsere Motorik testete – nur die Zähne mussten wir nicht zeigen. Auch diesen Test absolvierten wir erfolgreich und so stand unserer definitiven Niederlassung in Frankreich nichts mehr im Wege. Angefangen hatte unser Umzug von der Schweiz nach Frankreich allerdings viel komplizierter:
Es war Ende Januar und an unserem Umzugstag hatte bis zum Mittag alles bestens geklappt. Mein Mann und ich – ich bin die Tochter einer Zügelexpertin, wie Familienmitglieder und Freunde wissen – hatten den Umzug schon Wochen zuvor im Detail organisiert. Nicht nur das Datum für den Umzug und die Zügelmänner hatten wir reserviert, sondern auch den ganzen administrativen Papierkram hatten wir sehr ernsthaft erledigt, hatten dazu mehrmals mit der französischen Gemeindeverwaltung telefoniert und waren auch extra bei der dortigen Einwohnerkontrolle gewesen. Auch das mehrseitige Inventar unseres ganzen Hausrats erstellten wir äusserst sorgfältig, holten zuvor auch unzählige griffige Bananenschachteln in der Migros, packten alles gut ein, und am Umzugstag waren wir vollends überzeugt, sowohl logistisch wie administrativ alles ganz richtig vorbereitet zu haben. Der eigentliche Umzug morgens um sieben Uhr verlief wie am Schnürchen, vor allem auch dank des Zügelliftes, den die Zügelmänner zu unserem Balkon hochgefahren hatten. Die kleine Dreizimmerwohnung war schnell leergeräumt und schon bald sassen wir im Auto, hinter uns der Zügelwagen, auf der Autobahn Richtung Genf.
Vor der Stadt machten wir noch kurz Halt an einer Tankstelle und tranken einen Kaffee zusammen mit den drei starken Männern. Inzwischen hatte es leicht zu regnen angefangen, aber das war uns völlig egal. Frankreich und unser kleines, einfaches Traumhaus, das wir drei Monate zuvor in einem desolaten Zustand gefunden, gekauft, bereits leicht renoviert und schon total ins Herz geschlossen hatten, waren nun ganz nah! Wir sahen im Geiste schon unsere eigenen Kinder zusammen mit Hühnern und Katzen im Garten herumspringen und Riesenkürbisse gen Himmel und Kartoffelknollen zum Erdkern hin wachsen. Wir waren zwar etwas nervös, aber die Vorfreude half uns über unsere Angespanntheit hinweg. Um viertel vor zwölf Uhr erreichten wir die Grenzkontrolle in Vallard. Dort hielt der Umzugstransporter und wir parkierten unser Auto. Es regnete nun in Strömen, aber wir packten den Regenschirm und unser kostbares, dickes Umzugsdossier und begaben uns zum Zollbüro. Die Zollbeamten empfingen uns sehr freundlich, studierten unser Dossier ausführlich und sagten dann stirnrunzelnd:
«Ihnen fehlt ein Papier.»
Wir erstarrten. Nein, das sei unmöglich, wir hätten uns aufs Genauste informiert bei der Gemeinde und wir hätten alles dabei, was es brauche.
«Nein, hier haben Sie nur die Empfangsbescheinigung des entsprechenden Papiers der Einwohnerkontrolle, und die reicht nicht. Sie müssen aber das eigentliche Dokument von der Präfektur in Annecy vorweisen können.»
Uns verschlug es fast die Sprache.
«Aber auf der Gemeinde hat man uns gesagt, die Empfangsbescheinigung sei für den Umzug völlig ausreichend.»
«Dann hat man Sie falsch informiert. Ohne das entsprechende Dokument können wir Sie die Grenze nicht überqueren lassen, tut uns leid.»
Das Bedauern der Zollbeamten klang echt. Draussen hielt die Sintflut an und wir standen da wie begossene Pudel. Es war fünf vor zwölf.
«Wir könnten eventuell bei der Präfektur anfragen, ob sie Ihnen das Papier per Fax hierherschicken», schlug der Zollbeamte schliesslich vor und blickte auf seine Uhr.
«Wenn die Präfektur das Dokument bereithat und mit dem Faxen einverstanden ist, können Sie über die Grenze.»
Unsere Mienen heiterten sich ein bisschen auf. Es bestand also noch ein Quäntchen Hoffnung.
«Allerdings haben die nun Mittagspause bis vierzehn Uhr. Sie müssen also bis dann warten.»
Wir schluckten leer, bedankten uns aber für die Zuvorkommenheit der Beamten und kehrten zu unserem Auto zurück.
Es bestand Hoffnung, wiederholten wir uns wie ein Mantra, aber der Zügelverantwortliche sah das anders. Er war stocksauer, weil wir mit den verlorenen zwei Stunden auf jeden Fall seine ganze Planung durcheinanderbrachten, da er später am Tag noch einen Steinway-Flügel zu transportieren hatte. Hatte er uns nicht extra mehrmals gefragt, ob wir auch wirklich alle nötigen Dokumente hätten? Hatte er nicht? Doch, das hatte er, aber auf der Gemeinde hätten sie uns nicht die korrekte Auskunft gegeben, entgegneten wir kleinlaut und setzten uns ins Auto. Der Zügelunternehmer stieg wutschnaubend in die Fahrerkabine seines Transporters, wo seine zwei Mitarbeiter rauchend im Trockenen sassen und nur ungläubig den Kopf schüttelten.
Was ging uns damals nicht alles durch den Kopf! Zwei Stunden sassen wir im strömenden Regen im Auto, zu essen hatten wir nichts, aber das Wiederkäuen unserer Gedanken liess uns unseren Hunger sowieso vergessen. Würde es klappen oder nicht? Würden sie uns den Fax von Annecy herschicken? Aber wenn das Dokument nicht bereit war oder wenn sie keine Lust hatten, es extra zu faxen? Was dann? Müssten wir wieder umkehren mit dem Lastwagen und unserem ganzen Hausrat? Müssten wir die Möbel irgendwo notfallmässig einstellen lassen und einen neuen Umzugstermin organisieren? Und wo würden wir wohnen? Die alte Wohnung war leer und musste drei Tage später gereinigt an die neuen Mieter abgegeben werden. Was für ein Glück, dass wir die Kinder nicht dabeihatten, sie waren immerhin bei den Grosseltern in ihrer winzigen Wohnung in Frankreich untergebracht. Aber all unser Hab und Gut war im Lastwagen. Auch unsere Kleider, wir hatten nicht einmal eine Windel oder einen frischen Slip zur Hand. Wir seufzten, hofften und schickten Stossgebete gen Himmel. Bitte, bitte lieber Gott, sie sollen uns den Fax schicken!
Der Regen trommelte weiter aufs Autodach. Viel los war nicht am Zoll an diesem Tag. Auf die leeren Parkplätze prasselte der Regen gleichgültig hernieder und bildete grosse Wasserblasen, die schnell platzten. Sollte unser Frankreichtraum auch einfach so platzen? Würden wir es überhaupt je über die Grenze schaffen? Unsere Phantasien wurden immer schwärzer, genauso wie der Himmel draussen. Und die Minuten schleppten sich endlos dahin. Wir schalteten das Radio ein, etwas Musik liess unsere Gedanken in die Ferne, in die Vergangenheit schweifen. Hatten wir nicht schon einmal Probleme an einer Grenze gehabt? Ja, das hatten wir. Damals, als junge verheiratete Studenten ohne Kinder, als wir eine Velotour um den Bodensee gemacht hatten. Damals hatten wir nur unser Zelt, Schlafsäcke, einen Gaskocher und ein paar Kleider dabeigehabt. Selbstverständlich waren unsere Ausweispapiere in Ordnung gewesen, aber mein Mann hatte damals einen ausländischen Pass. Als wir also von Konstanz her zurück in die Schweiz wollten, stiessen wir unsere Velos über die Grenze und präsentierten unsere Pässe. Mit meinem Schweizer Pass und meinem Aargauergesicht wurde ich durchgewinkt, mein Mann mit seinem Mittelmeerteint aber wurde aufgehalten. Man wollte ihn nicht durchlassen, sein Aufenthaltsrecht sei abgelaufen, sagte man mir auf Deutsch, als ich erstaunt zurückkam. Der Schweizer Zollbeamte sprach kein Französisch und mein Mann verstand kein Wort. Wir wussten aber beide, dass sein Aufenthaltsstatus in Ordnung war. Ich wies in seinem Pass auf den Stempel der Waadtländer Behörden hin, denn dort stand, dass die Aufenthaltsbewilligung ab dem eingetragenen Datum für die Dauer von drei Monaten gültig war. Die drei Monate waren noch längst nicht abgelaufen, aber der Zöllner hatte sich einfach auf das Datum gestützt. Er könne kein Französisch, er sei Appenzeller, erklärte er mir schliesslich entschuldigend und liess uns durch. Später schrieb ich sogar einen entrüsteten Leserbrief über den peinlichen Mangel an Sprachkenntnissen dieses Schweizer Zöllners, der in der Tageszeitung 24-Heures abgedruckt wurde.
Wir waren also schon damals in unserem Recht gewesen, beim Zollübergang, und im Grunde waren wir es auch jetzt, an diesem Zoll in Vallard. Wir hatten die Angaben der französischen Gemeinde befolgt. Dass sie uns falsch informiert hatten, war nicht unser Fehler, aber das konnten wir natürlich hier und jetzt nicht beweisen. Wir warteten und warteten. Um dreizehn Uhr dreissig wurden wir richtig nervös. Noch eine halbe Stunde und die Entscheidung würde fallen. Um dreizehn Uhr fünfzig stiegen wir beklommen aus dem Auto und liefen zum Zollgebäude zurück. Dort warteten wir am Schalter. Um zwei Uhr starrten wir gebannt auf das Faxgerät. Plötzlich hörten und sahen wir, wie ein Papier ausgedruckt wurde. Einer der Zollbeamten griff danach und brachte es uns lächelnd. Wir waren ganz aus dem Häuschen und bedankten uns überschwänglich, während der Beamte unser Dossier ergänzte und uns ein grünes Formular zum Unterzeichnen reichte und uns danach ein Doppel aushändigte. Wir hatten es geschafft! Wir durften über die Grenze! Wir lachten und küssten uns, hüpften aus dem Zollgebäude zu unserem Opel, wedelten aufgeregt mit dem grünen Formular und überbrachten dem Zügelunternehmer so die frohe Botschaft. Dieser aber knirschte nur verächtlich mit den Zähnen, stieg sofort in die Fahrerkabine und liess eilends den Motor anspringen. Wir setzten uns ebenfalls schnellstens ins Auto und fuhren voran, während uns die Zollbeamten lachend durchwinkten. Frankreich, wir kommen!, riefen wir übermütig und sangen ein arabisches Lied, denn die Marseillaise konnten wir noch nicht. Was strahlten wir nicht in unserem Auto, sogar der Regen hatte etwas nachgelassen, wir flogen mit unseren Gedanken nur so über die Grenze, unserem ersehnten kleinen Traumhaus mit Garten entgegen. Und es wartete auch tatsächlich schon ganz ungeduldig auf uns: Es klapperte nur so mit seinen roten Fensterläden, zwinkerte uns zu, lachte wie ein Maikäfer und öffnete uns Tür und Tor! Unsere Habseligkeiten waren schnell abgeladen. Dem Zügelunternehmer bezahlten wir die Extrastunden und seinen Angestellten drückten wir ein dickes Trinkgeld in die Hand, als ihr Chef es gerade nicht sah.
Seit diesem denkwürdigen Umzug sind Jahrzehnte verflossen und wir können uns immer noch sehr gut an dieses administrative Abenteuer erinnern. Inzwischen hat die Schweiz das Schengen-Abkommen längst unterzeichnet und eine Rückkehr nach Helvetien wäre wohl jetzt ziemlich einfach, aber wir denken gar nicht daran, obwohl die Kinder inzwischen flügge geworden sind. Wir wollen zusammen alt und schrumpelig werden, händchenhaltend vor dem Haus sitzen und uns gegenseitig an alte Grenzübergangsanekdoten erinnern und mit oder ohne Zähne herzlich darüber lachen.
Dies ist eine von 53 Erzählungen aus dem Buch Tuttifrutti – Humoristische Erzählungen für jeden Geschmack von Anja Siouda. Der Erzählband erschien erstmals 2016 beim Verlag Pro Libro in Luzern, 2019 dann in einer Neuauflage als Buch und Ebook bei BoD. Die 53 Erzählungen sind unterteilt in zwölf Passionsfrüchte, zehn Zankäpfel, dreizehn Maulbeeren, neun Knacknüsse und neun Kichererbsen.
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