Weil ein Léman Express morgens um sieben Uhr im französischen Annemasse ohne Vorankündigung ausgefallen war, schaffte ich es an jenem Samstag Mitte Februar nur ganz knapp zur Abschiedsfeier für meine Freundin D. in einem ländlichen Ort bei Bern.
Zusammen mit anderen Trauergästen, die ab Bern per Zufall im gleichen Regionalzug gewesen waren wie ich und die ich an den Blumen und dem daran gehefteten Couvert mit D.’s Namen als solche erkannte, stiegen wir aus dem Zug und suchten per Google Map die reformierte Kirche, die nicht weit vom Bahnhof entfernt war.
Während wir schweigend auf dem Trottoir liefen, hörte ich als erste plötzlich die Glocken. Und ich realisierte sofort, dass es die Glocken für D. waren. Die Glocken riefen uns in die Kirche, sie zeigten uns den Weg …
Es war schon so lange her, seit ich kein solches Glockengeläut mehr gehört hatte. Es hat mich emotional immens bewegt und tut es auch jetzt noch.
Diese Glocken läuteten mindestens zehn Minuten NUR FÜR MEINE FREUNDIN D.
Mein Gott, sie läuten für dich, liebe D.! Sie läuten dir zu Ehren!
Ich weinte schon auf den Treppenstufen, die ich zur Kirche hinaufstieg.
Die Glocken läuteten eindringlich weiter.
Warum nur hast du diesen Schritt getan, liebe D.? Ich kann es immer noch nicht fassen.
In der Kirche fand ich noch knapp einen freien Platz am Rand. Und da sass ich mit vielleicht 200 anderen Personen und weinte weiter, neben einer jungen Frau, die vielleicht im Alter von D. war, während wir dem Pfarrer, dem Partner von D., der ihre Biographie schilderte, und Angehörigen, die musizierten und sangen, zuhörten.
Wir durften alle eine Schwimmkerze anzünden für D. Sie schwammen leuchtend im Wasser vor dem lächelnden, mit Blumen geschmückten Portrait von D. D., wie wir sie alle gekannt hatten. D. bescheiden, glücklich und zufrieden.
Vor zehn Jahren hatte ich sie während meines Zweitstudiums an der Universität Genf bei einer Studenten-Geburtstagsparty kennengelernt. Trotz unseres Altersunterschieds hatten wir sehr viel gemeinsam. Nicht zuletzt unser interkulturelles Interesse und die Heimat unserer Ehemänner.
Vor der Geburt ihres zweiten Kindes fragte sie mich, ob es mich störe, wenn sie ihrem Sohn den gleichen arabischen Vornamen gebe, den unser erwachsener Zweitgeborener trug. Natürlich störte es mich nicht, ganz im Gegenteil.
Wir besuchten einander hie und da und schrieben uns seit Jahren ellenlange, vertraute Mails. Ich habe sie alle noch. Nur die letzten anderthalb Jahre waren ihre Mails seltener geworden. Job, Zusatzausbildung, Familie, Scheidung und Umzug weg von Genf, all das nahm sie in Beschlag.
D., die sich immer um alle kümmerte, zu allen und allem schaute. Die sich dabei selbst verlor.
Seeleninfarkt nannte der Pfarrer ihren endgültigen Schritt, der ein Sprung war.
Aber ich sehe sie immer noch, wie sie zweieinhalb Monate vorher völlig überraschend an eine Lesung von mir in Luzern gekommen war und wie ich sie danach zum Zug zurückbegleitete, wo sie lächelnd einstieg. Wo sie sich für jenen Abend auf ein Konzert mit ihrem neuen Lebenspartner freute und wie glücklich sie an jenem Tag wirkte!
Warum geht ein so wunderbarer Mensch?
Foto: Thanks to Pixabay (Pexels)
6 Comments
Das ist sehr traurig. Oft sind es die Tüchtigen, die äusserlich alles managen, pflichtbewusst sind. Und irgendwann wird es einfach zu viel. Ich kann das so gut nachempfinden. Und es ist sehr, sehr traurig…
Ich danke dir, liebe Beatrice!
Depressionen sind ein furchtbarer Gegner des Lebens und der Seele. Wir Betroffenen lächeln und umarmen und brauchen das doch selbst so sehr. Und ganz plötzlich geht nichts mehr – für alle unfassbar und unvorhersehbar. Da ich gläubige Christin bin, hoffe ich, das Gott deine Freundin in Liebe aufgenommen hat. Und den anderen Freunden wünsche ich, das sie von nun an zweimal hin hören… hinsehen… denn es kann jeden treffen. In tiefer Verbundenheit – Sabine
Herzlichen Dank für deine mitfühlenden Worte,liebe Sabine!
Die Glocken für D. läuten nun für immer. – Wunderbar, liebe Anja.
Ich danke dir, lieber Martin!