Je mehr wir uns mit einem Text identifizieren können, desto mehr fühlen wir uns angesprochen, bewegt er uns und erinnern wir uns an ihn. Genauso geht es mir, und offenbar auch vielen anderen Leserinnen und Lesern mit dem von Wolfram Schneider-Lastin kürzlich im Rotpunktverlag herausgegebenen Buch Fragen hätte ich noch, das auf Anhieb zum Bestseller wurde! Dreissig Enkelinnen und Enkel aus Deutschland, Österreich und der Schweiz erzählen darin ihre eigenen, oftmals berührenden Erinnerungen an ihre Grosseltern.
Wir alle hatten einmal Grosseltern, aber vielleicht haben wir sie gar nie gekannt oder aber wir erinnern uns nur noch ganz vage an sie. Möglicherweise aber kannten wir sie sogar so gut, dass sie einen unauslöschlichen positiven oder auch negativen Eindruck hinterliessen. Dreissig solcher Eindrücke, ganz unterschiedlicher Art, findet man in Fragen hätte ich noch, und sie sind auch noch beim zweiten oder dritten Wiederlesen spannend.
Wenn man selber auch gerne schreibt, ob beruflich oder privat, juckt es einen während dieser Lektüre geradezu in den Fingern, Erinnerungen an die eigenen Grosseltern festzuhalten. So hat mich insbesondere die Geschichte Ausgeschlossen von Esther Banz persönlich berührt und mich dazu angestachelt, Nachforschungen nach meiner eigenen Urgrossmutter anzustellen. In der Geschichte von Esther Banz geht es nämlich um die Ungerechtigkeit, die ihrer Grossmutter und vielen anderen Frauen jener Generation widerfuhr, wenn sie einen Ausländer heirateten. Durch die Heirat verloren sie von Gesetzes wegen sofort die Schweizer Staatsbürgerschaft, was sie zu Fremden im eigenen Land machte. Esther Banz schildert eindrücklich, wie bitter das «Schwaben»-Mobbing für ihre eigene Mutter als Kind im heimatlichen Luzern gewesen war. Das frauenfeindliche Gesetz führte auch dazu, dass ausgebürgerten aber in der Schweiz lebenden ehemaligen Schweizerinnen und deren Familien keine Sozialhilfe ausbezahlt wurde. Besonders schwer traf es ausgebürgerte Schweizer Jüdinnen, die während des zweiten Weltkriegs im Ausland lebten. Die Schweiz verweigerte ihnen ihre Hilfe. Erst 1952 wurde diese Heiratsregel-Diskriminierung von Schweizer Frauen aufgehoben.
Bei dieser Geschichte kam mir plötzlich in den Sinn, dass meine eigene Grossmutter mütterlicherseits bzw. meine Urgrossmutter vermutlich auch von dieser frauenfeindlichen Gesetzgebung betroffen waren, obwohl so etwas nie thematisiert worden war in meiner Familie. Tatsache ist, dass die Schweizer Mutter meiner Grossmutter 1920 einen Deutschen Soldaten heiratete, der seit dem 1. Weltkrieg physisch und psychisch angeschlagen war und der im Januar 1921 bereits verstarb, wenige Tage bevor seine Tochter zur Welt kam. Meine Grossmutter hat ihren Vater nie gekannt. Vier Jahre später heiratete ihre verwitwete Mutter einen Schweizer Witwer. Falls meine Urgrossmutter ihre Schweizer Staatsbürgerschaft durch die erste Ehe verloren hatte, erlangte sie sie durch die zweite Ehe mit einem Schweizer wieder, denke ich. [1] Erstaunlicherweise fand ich, dank einem 1924 ausgestelltem Auszug aus dem Taufregister, auf den ich vor ein paar Jahren in den Unterlagen meiner an Alzheimer leidenden Mutter stiess, einen Teil des Stammbaums meiner Urgrossmutter direkt im Internet auf einer Webseite mit Urner Geschlechtern. Hinweise auf eine wechselnde Staatsbürgerschaft fand ich dort zwar nicht, aber ich entdeckte, dass meine Urgrossmutter vor ihren zwei Ehen auch noch eine aussereheliche Beziehung gehabt hatte, aus welcher ein früh verstorbenes, im Stammbaum aber namentlich aufgeführtes Kind hervorgegangen war.
Zeitlich weit weniger entfernt liegt meine persönliche Erfahrung von 1987, die noch an diese frauenfeindliche Gesetzesregel erinnert. Einige Zeit vor meiner Heirat vor 37 Jahren musste ich auf dem Innerschweizer Standesamt eine offizielle Erklärung abgeben, dass ich meine Schweizer Staatsbürgerschaft trotz meiner Heirat mit meinem algerischen Ehemann behalten wollte. Der Stempel mit dieser Erklärung prangt auf unserem Eheschein (siehe Foto). Damals, mit blutjungen 19 Jahren, fand ich eine solche Erklärung total seltsam, denn natürlich wollte ich Schweizerin bleiben. Ich hatte mir aber über die historische Gesetzesentwicklung keine weiteren Gedanken gemacht.
Weil mich das Thema Religionswechsel persönlich betrifft, wird mir die Geschichte von Wolfram Schneider-Lastin besonders in Erinnerung bleiben, da seine lutherischen Vorfahren in Kärnten nach dem Dreissigjährigen Krieg zum Katholizismus gezwungen werden sollten und deshalb die Region verliessen. Später gehörte diese Unbeugsamkeit zum Lebensprinzip von Kobus, dem Grossvater von Wolfram Schneider-Lastin, der sich als Zollbeamter im Verborgenen dem Nazi-Regime widersetzte und seinen Überzeugungen treu blieb. Dem Gemetzel des ersten Weltkriegs entkam Kobus noch als junger talentierter Offizierskoch und er war auch später in seiner Familie für seine kulinarischen Köstlichkeiten, insbesondere aber für seine sagenhafte Bananenrolle bekannt! Diesbezüglich erstaunt mich wegen einer Erinnerung meiner eigenen Mutter ein Detail: Waren denn Bananen damals in Deutschland problemlos erhältlich? Meine aus einfachen Verhältnissen stammende Mutter erzählte mir nämlich früher von jener ganzen Banane, die sie in Luzern einmal essen durfte, als sie als Kind um 1950 herum mit einer schweren Nierenbeckenentzündung im Bett lag.
Die interkulturelle Thematik, die in meinem Leben seit meiner Heirat eine zentrale Rolle spielt und über die ich auch selber schreibe, machte mich natürlich neugierig auf die Erzählung «Niwala» von Waseem Hussain, die ich als erstes las. Auf wenigen Seiten bringt der Autor es fertig, die Entstehungsgeschichte Pakistans infolge der Teilung von Britisch-Indien mit der Geschichte seiner eigenen Herkunftsfamilie auf anschauliche, berührende und eindrückliche Weise zu verbinden.
Viele der anderen Geschichten berührten mich ebenfalls, wegen der Alzheimerthematik insbesondere Nonno Pietro von Zora del Buono. Erinnern werde ich mich aber auch an die hochdramatische Erzählung Das Gurkenglas von Nelio Biedermann, der das Eintreffen der sowjetischen Truppen Anfang November 1956 in Budapest dem Leser aus der Sicht seines Grossvaters Laci beschreibt. Bewegt haben mich zudem Die schwarze Braut von Daniela Engist, Die Krücken meines Grossvaters von Christa Prameshuber und Mein Nenni von Romana Ganzoni. Die beiden zuletzt genannten Autorinnen erzählen von einer besonders innigen, exklusiven Vertrautheit mit ihren einmaligen Grossvätern.
Abschliessend möchte ich noch etwas vielleicht kurios Anmutendes zum Cover des Buches erwähnen. Lange bevor das Buch erschienen war, sah ich auf Facebook bereits die Ankündigung mit der Coverzeichnung in Schwarz-Weiss. Auf dem Smartphone-Bildschirm war die Zeichnung besonders klein, und ich sah da immer einen Leiterwagen, mit einer grossen Kugel drin, die vermutlich die Erdkugel war und … zuoberst lag der kleine, neugierige, pfiffige Enkel mit Pumuckelfrisur auf dem Rücken und sinnierte über die riesige, weite Welt seiner Grosseltern. Die unendlichen Erinnerungen seiner Vorfahren lagen ihm zu Füssen.
Obwohl ich inzwischen längst realisiert habe, dass sich die Umrisse «meines Pumuckls» mit Wuschelfrisur und zum Himmel gerichteten Bäuchlein aus dem grossen Dach eines Bauernhofs, zwei kleinen Schuppen, einem Baum und einem auf dem Feld arbeitenden Paar zusammensetzen, sehe ich darin stets einen kleinen Jungen. Der Grafiker Hannes Binder möge es mir verzeihen, aber ich finde meine eigene Perspektive genauso passend.
Anja Siouda, 14. November 2024
[1] Nachtrag vom 18.11.2024: Heute ist die Antwort eines sehr freundlichen und hilfsbereiten Archivars des Staatsarchivs Luzern bei mir eingetroffen und nun weiss ich mit Gewissheit, dass meine Urgrossmutter ihr Staatsbürgerrecht genau wie alle anderen Schweizer Frauen, die einen Ausländer heirateten, verloren hatte, und dass sie vom September 1920 bis im Januar 1924 Deutsche war. Im Dokument des Staatsarchivs wird aufgeführt, dass meine Urgrossmutter nach dem frühen Tod des Ehemannes «gemäss Mitteilung des Eidg. Politischen Departementes […] unentgeltlich wieder in das Schweizerbürgerrecht aufgenommen und derselben mit ihrem Kinde das Bürgerrecht der Gemeinde W[…] erteilt» wurde.
Audio-Aufnahme vom 4. Januar 2001, mit freundlicher Genehmigung meines Onkels Edwin Schmid.