Den folgenden Text schrieb ich 2007 auf Englisch, ein halbes Jahr nach dem Tod meiner Luzerner Grossmutter (1921 – 2006). Damals bereitete ich mich als Gasthörerin in einem Englisch-Literatur-Seminar der Universität Genf auf mein Proficiency-Diplom und auf meine Aufnahmeprüfung an der ETI (Übersetzer- und Dolmetscherschule der Universität Genf) vor.
Da ich vor kurzem das Buch «Opoe» von Donat Blum gelesen habe, worin der junge Schweizer Autor anlässlich der Trauerfeier für seine holländische Grossmutter, die ihm eigentlich lange fremd geblieben war, über ihr und sein Leben reflektiert und dabei gewisse Beziehungsparallelen zieht, habe ich mich an den von mir ursprünglich auf Englisch verfassten Text über die Abschiedszeremonie meiner eigenen Grossmutter erinnert.
Einer meiner Onkel und dessen Schwiegersohn hatten übrigens die gute Idee gehabt, zu ihrem 80. Geburtstag eine CD mit ihr aufzunehmen, wo sie über ihr Leben erzählt. Ein unschätzbares privates Familiendokument. Diese CD kann ich hier natürlich nicht wiedergeben, da sie nur für den privaten Gebrauch vorgesehen ist, aber meinen Text von 2007 veröffentliche ich hiermit.
Meine Originalfassung auf Englisch folgt meiner aktuellen Übersetzung ins Deutsche.
Foto des Gemeinschaftsgrabs im Friedental Luzern von Lilo Finschi.
Ein zarter Rauchfaden entweicht der bauchigen Urne, als die Asche in die verdeckte Öffnung zuoberst auf dem würfelförmigen Behälter geleert wird und du kämpfst bereits mit den Tränen. Es ist, wie wenn ihre Seele entgleiten würde, in einem Kringeltanz dem Himmel entgegen, während sie, in ihrem Körper gefangen, ans Bett gefesselt, unfähig gewesen war, sich während den letzten Monaten ihres Lebens zu bewegen, unerträgliche Schmerzen erleidend, die nicht einmal Morphium hatte lindern können. Das war der Lohn für ihr schwieriges und ermüdendes Leben, in dem sie unter der Woche als Abwartin in einem mittelgrossen Wolkenkratzer und am Sonntag als Serviertochter gearbeitet hatte, um ihre sechsköpfige Familie zu ernähren.
Du hast das noch nie gesehen. Du stehst unter der seltsamen offenen Pyramidenstruktur des Gemeinschaftsgrabs in Luzerns Stadtfriedhof. Es war ihr Wunsch gewesen, hier begraben zu werden, mit all den anderen, anonym. Das Urnengrab ihres eigenen Ehemannes war bereits weggeräumt worden, denn man kann dort nicht in Frieden bis in alle Ewigkeit liegen, wenn man nicht reich genug war, die Grabplatzmiete für das winzige Stückchen Boden für mehr als zwanzig Jahre zu bezahlen.
Die Dreiecke dieser seltsamen Pyramide aus weissen Betonpfeilern erinnern dich plötzlich an die kleinen dreieckigen Brotschnittchen, die sie früher in ihrer winzigen Küche für dich schnitt und sie mit Butter und Honig bestrich, als du noch ein kleines Mädchen warst, aber auch dann noch, als du schon etwas grösser warst. Du schliefst jeweils auf ihrem roten Kanapee mit den grünen Rosen und in der Nacht hörtest du die Wanduhr über dir jede Stunde schlagen. Jetzt hängt diese Wanduhr in der Wohnung deiner Mutter, aber der Glockenschlag bringt dich immer noch zurück ins Zuhause deiner Grossmutter, wo du ein uraltes, zerfleddertes Brettspiel spieltest, ein Werbegeschenk von Maggi, mit Knöpfen statt mit Spielmarken, um deine abenteuerlichen Reisen rund um die vergilbte Kartonwelt zu bezahlen. Dieses Spiel liebtest du genauso heiss wie die alte Schallplatte mit den aufgezeichneten Geschichten der berühmtesten Schweizer Geschichtenerzählerin, eine Frau, die auch schon recht alt* und deren eindrückliche Stimme über Jahrzehnte hin gleich geblieben ist. Eine der Geschichten liebtest du ganz besonders: “Über einen, der auszog, das Fürchten zu lernen” und dem man eines Tages einen ganzen Kübel voller glitschiger Rossnägel** über den Kopf goss. Ein kalter Schauder läuft dir noch immer über den Rücken, wenn du daran zurückdenkst, wie wenn du an der Stelle des Helden wärst, aber trotzdem möchtest du die Schallplatte erben und deine eigenen Kinder diesen Geschichten lauschen lassen.
All die Kilos Weihnachtguetzli***, die sie jeweils zubereitete! Eine erstaunliche Mischung von Formen und Aromen: eine Riesentüte für jedes der acht Enkelkinder! Du assest sie am Morgen nach dem Weihnachtsabend auf deinem Bett liegend und verschlangst dabei die neuen Bücher und die Kekse gleichzeitig, ohne auf die Krumen zu achten.
Und dann diese berühmte Weihnachtsaufnahme auf einer Kassette, die es von ihr gibt, wie sie vor Lachen losprustete und sagte: «Ech cha d’Cherze ned usbloose, ich verlüüre mis Bees!»**** Dieses Gebiss, das du für sie geputzt hast, als du ein Teenager warst, als sie sich das rechte Handgelenk gebrochen hatte und es nicht selber tun konnte.
Während der Messe, die der Abschiedszeremonie vorangeht, singt deine Mutter ein Kinderlied, das sie mit ihrer Mutter während ihren letzten Monaten jeweils sang, weil es ihr guttat. Es ist ein religiöses Volkslied über eine kleine Glocke, die dich ans Beten erinnert und die dir in der letzten Strophe den Weg zur Treppe zeigt, die dich in den Himmel hinaufführt. Es ist ziemlich altmodisch, sogar ein bisschen kitschig, aber als deine eigene Mutter es singt, kannst du gar nicht anders, als von deinen Gefühlen überwältigt zu sein.
Während du leise weinst, beginnt das Hörgerät der älteren Frau hinter dir, ganz bestimmt die Grossmutter von jemand anderem und vielleicht eine Freundin deiner Grossmutter, laut zu pfeifen, aber sie kann es nicht hören oder will es nicht abstellen, die Verwandten neben ihr versuchen vergebens, sie zu überreden, aber sie versteht nicht, was los ist. Sie und deine singende Mutter sind die einzigen, die das Pfeifen nicht hören. Sogar der Pfarrer blickt erstaunt. Eine Art Mister-Bean-Szene, denkst du plötzlich, aber es gibt keine Unterhaltung, die dich heute aufheitern könnte. Dein Gesicht ist nass vor lauter Tränen, aber du kannst nicht aufhören zu weinen, obwohl dein elfjähriger Sohn neben dir sitzt und es das erste Mal in seinem Leben ist, dass er seine Mutter weinen sieht.
Du denkst an die letzte Tasse Kaffee und das Stück Kuchen, das du mit ihr zusammen in der Cafeteria des Altersheims teiltest, wohin du sie in ihrem Rollstuhl gestossen hattest, ein paar Monate vor ihrem 85. Geburtstag. Wie leid sie dir tat, als sie zu weinen begann, als sie die bescheidene Darbietung eines Akkordeonspielers hörte, weil diese Musik sie an deinen Grossvater erinnerte, der sie früher gespielt hatte. Und wie schuldig du dich fühltest und immer noch fühlst, weil dein eigenes Akkordeon in deinem Zuhause in Frankreich unter einer Staubschicht verstummt ist.
Du weisst nicht, was dich nach dem Tod erwartet. Vielleicht gibt es nichts Anderes als Dunkelheit und Stille, aber du kannst hoffen oder glauben, dass du zu jenen zurückkehren wirst, die du am meisten liebtest, wenn sie vor dir gehen mussten. Es ist kindisch und naiv, aber unglaublich tröstlich, dir vorzustellen, dass deine Grossmutter irgendwo dort oben sitzt, im siebten Himmel, da bist du dir sicher, Hand in Hand mit deinem Grossvater, den sie so sehr liebte. Beide blicken auf dich hinunter, auf ihr immer noch geliebtes Grosskind, jetzt selber Mutter, vielleicht noch nicht in der Mitte deines Lebenswegs angekommen.
* Trudy Gerster (1939 – 2013), **Kaulquappen, ***Weihnachtskekse, **** «Ich kann die Kerzen nicht ausblasen, ich verliere mein Gebiss!»
Copyright Anja Siouda, Übersetzung 6. November 2019
There is a delicate smoky filament slipping the spherical brass urn when the ashes are released into the hidden aperture on top of the cube-shaped container and you’re already fighting back your tears. It is as if her soul were leaving, performing a slight curly dance towards the sky, whereas before, imprisoned in her body confined to her bed, she had been unable to move during her last few months, suffering from unbearable pain which even morphine couldn’t relieve. That was the reward for her difficult and tiring life working as a caretaker in a medium-sized skyscraper during the week and as a waitress on Sundays to make ends meet for her household of six.
You have never seen this before. You are standing under the strange open pyramidal structure of the community grave in Lucerne’s central cemetery. It had been her wish to be buried here, with all the others, anonymously, her own husband’s urn grave having been cleaned away already, as you can’t lay there in peace until doomsday when you hadn’t been rich enough to afford the rent for the tiny piece of ground for more than twenty years.
The triangles of this strange pyramid formed by the white concrete pillars suddenly remind you of the little bread triangles she used to slice for you in her small kitchen, spreading them with butter and honey when you were a young girl, but also when you had grown up a little bit. You would sleep on her red canapé with the green roses and hear the clock striking every hour at night. Now this clock is hanging in your mother’s apartment, but the sound still takes you back to your grandmother’s home, where you would play an old battered board game, a publicity-gift from Maggi, using buttons instead of coins to pay for your adventurous travels all around the faded cardboard world. A game you were as fond of as the old vinyl disk with the recorded stories of the most famous Swiss German storyteller, a rather old woman and whose impressive voice has not changed for decades. There was one story you were particularly keen on: “About one who wanted to learn how to feel frightened” and once had a bucketful of slippery tadpoles poured on his head. A cold shiver still runs down your spine when you recall this, as if you were in the hero’s place, and yet you’d like to inherit the disk and let your own children listen to it.
Those kilos of Christmas biscuits she used to prepare! An amazing blend of different forms and tastes: one huge packet for every one of the eight grandchildren. You would eat them the morning after Christmas Eve, lying on your bed, devouring the new books and the biscuits at the same time and without caring about the crumbs.
And the famous Christmas recording of her bursting into laughter and saying: “I can’t blow out the candles, I’m loosing my dentures!” Those dentures you brushed for her as a teenage girl, when she had broken her right wrist and couldn’t do it herself.
During the mass preceding the funeral, your mother starts to sing a children’s song she had become used to singing with her mother during her last months, because this was some comfort to her, a religious popular song on a tiny church bell reminding you to pray and showing you the stairs that lead you up to the sky in the last verse. It’s quite old-fashioned, even a little bit kitschy, but when your own mother’s singing it in memory of your grandmother, you can’t help but feel overwhelmed with emotion.
You remember the last cup of coffee and the piece of cake you shared with her in the cafeteria of the nursing-home, where you had driven her in her wheel-chair, a few months before her 85th birthday. How sorry you felt for her as she started crying when she heard the modest performance of a man playing the accordion, because this music reminded her of your grandfather who used to play it. And then how guilty you have felt and still do, because your own accordion has relapsed into silence under a layer of dust in your own home in France.
You don’t know what awaits you after death. Maybe there is nothing other than darkness and silence, but you may hope or believe that you will return to those whom you loved most, if they had to go before you. It’s childlike and naïve but incredibly comforting to imagine your grandmother sitting somewhere up there, on cloud nine you’re sure, hand in hand with your grandfather whom she loved so much, the two of them looking down on you, still their beloved grandchild, now mother yourself, maybe not yet half way down the path of your life.
Copyright Anja Siouda, Frühling 2007
5 Comments
Ein wundervoller Text und man spürt darin die Liebe zu deiner Oma. Der Tod ist Gottseidank nichts endgültiges, solange man im Herzen der Lieben weiter lebt. Ich werde mir die größte Mühe bei meinen Enkelkindern geben, dass sie vielleicht auch einmal so schöne Gedanken an mich, in sich tragen. LG Hanni
Herzlichen Dank, liebe Hanni! GLG Anja
liebe Anja, sehr berührend sind für mich deine Erinnerungen an deine Grossmutter.
Ich bin sehr sensibel beim Thema Tod, und Gedanken an Verstorbene.
Weil zu Lebzeiten passiert, was der Mensch dann nach seinem Tod an Gefühlen und Gedanken hinterlassen kann.
Herzlichen Dank, liebe Lilo! GLG Anja
Ich kenne natürlich d.h. eigentlich erst seit Papas Tod 2016 das Friedental. Die Pyramide steht an einem schönen Platz, u ich stelle mir immer vor, wie die Verstorbenen die wunderbare Sicht auf die Reuss geniessen. Liebevolle Erinnerungen an die Oma.