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Ein kleiner Schritt für mich … 

In diesen weissen Schuhchen aus Kunstleder, aber mit Hasenfellbesatz und weicher Ledersohle habe ich, genau wie meine zwei älteren Brüder vor mir, meine ersten Schritte gemacht. Mindestens ein Jahr nachdem ich im Februar 1968 das Licht der Welt erblickt hatte. Vielleicht sogar am 29. Juli 1969, als der Astronaut Neil Armstrong beim Betreten der Mondoberfläche sagte: «That’s one small step for (a) man, one giant leap for mankind». *

Das könnte ich jetzt einfach so behaupten, überprüfen lässt es sich nicht. Nicht einmal meine Mutter könnte mir widersprechen, da sie leider an Alzheimer leidet. Zudem bezweifle ich, dass sie sich vor ihrer Erkrankung noch an so etwas Nebensächliches erinnerte, mit wie vielen Monaten ich damals laufen konnte, obwohl sie immer eine aufmerksame, liebe- und verantwortungsvolle Mutter gewesen war und in den 70er Jahren sogar einen berührenden mehrseitigen Text und ein paar Gedichte über uns drei Kinder verfasst hatte. Da der eine meiner Söhne aber auch mit vierzehn und der andere mit achtzehn Monaten gehen konnte, liesse sich vielleicht eine genetische Ähnlichkeit ableiten. Übrigens war die Mondlandung damals etwas derart Aufregendes, dass meine Eltern extra einen Schwarzweiss-Fernseher gemietet hatten, um das Ereignis zeitgleich miterleben zu können. Vielleicht zog ich mich gerade im entscheidenden Moment am Salontischchen hoch und keiner sah, dass ich meine ersten Schritte machte. Ich muss zugeben, das wäre jetzt etwas zu weit hergeholt, denn inklusive Zeitverschiebung wurde die Mondlandung morgens gegen vier Uhr übertragen und da lag ich bestimmt brav in meinem Bettchen.

Es gibt aber offenbar SchriftstellerInnen, die halten es mit ihrer eigenen Biographie wie mit ihren Romanen. Ein Beispiel dafür wäre Sibylle Berg, siehe NZZ-Artikel vom 15.6.2023. Da wird nach Lust und Laune fabuliert. Ich frage mich, warum manche Berühmtheiten das nötig haben. Fürchten sie denn, das Interesse der Presse und der Leserschaft lasse gleich nach, wenn ihre Biographie weniger spektakulär daherkäme? Es gibt auch solche, die halten fast alles Private unter Verschluss. Elena Ferrante zum Beispiel, deren richtiger Name der Öffentlichkeit verborgen bleibt. Als anonyme Autorin bleibt sie umso geheimnisvoller und erfolgreicher.

Meine eigene Biographie ist völlig unspektakulär, abgesehen davon, dass ich noch vor meiner Matura mit 19 Jahren meinen langjährigen algerischen Brieffreund geheiratet habe – aus Liebe und ohne schwanger zu sein – und mit dem ich auch 36 Jahre später immer noch glücklich verheiratet bin.

Trotz oder womöglich gerade wegen meines unspektakulären, einfachen Lebens kann ich – laut Hunderten von Kommentaren der Leserschaft – höchst spannende Romane schreiben. Ich schöpfe dafür aus meiner Phantasie und meiner (interkulturellen) Lebenserfahrung. Immer geht es mir um zwischenmenschliche Beziehungen, denn diese stehen auch in meinem Leben an erster Stelle. Liebe und Freundschaft machen glücklich, dauern oftmals lebenslang und tragen zum inneren Frieden bei. Dagegen sind Ruhm und Erfolg zwar berauschend, aber vergänglich und insofern zweitrangig. Mit zunehmendem Alter rückt zudem auch die eigene Gesundheit und die Gesundheit des Lebenspartners ins Zentrum. Ein illustres Beispiel dafür ist der überraschende Rücktritt der Bundesrätin Simonetta Sommaruga im vergangenen November, nachdem ihr Ehemann, der Schriftsteller Lukas Hartmann, einen Schlaganfall erlitten hatte.

Wie viel Zeit jedem von uns bleibt, steht in den Sternen. Auch wenn die eigenen Eltern über 80 Jahre alt sind, und man altersmässig (aber ohne ihre Gebresten) gerne in ihre Fussstapfen treten möchte, gibt es dafür keine Garantie. Auch ich bin nun schon mehr als ein halbes Jahrhundert auf diesem Planeten und habe als Kind der Wohlstandsgesellschaft seit 1968 mit und ohne Schuhe vermutlich schon einen nicht geringen ökologischen Fussabdruck hinterlassen. Immerhin trug ich sowohl Schuhe wie auch viele Kleider meiner älteren Brüder nach, da es in meiner Kindheit zum Glück noch kein gesellschaftliches und kommerzielles Rosa-Diktat für Mädchen gab.  

In den 70er Jahren standen die weissen Babyschuhe auf einem von meinem Vater hergestellten Regal über den übers Eck angeordneten Ehebetten meiner Eltern. Das Bett war mit einer dunkelblauen Steppdecke bedeckt, das weiss ich noch genau und über den Schuhchen hingen in einem Rahmen zwei Schwarzweiss-Fotos eines Ballett tanzenden Paars. Das Sinnbild einer Harmonie, die es zwischen meinen Eltern in Wirklichkeit nie gab. Auch nach der Scheidung meiner Eltern Ende der 70er Jahre bewahrte meine Mutter diese Schuhchen immer noch in der Nähe ihres Bettes auf. Erst nach meiner Heirat 1987 und nach meinem späteren Wegzug in die Westschweiz sah ich sie nirgends mehr, aber obwohl meine Mutter sie nach ihrer zweiten Heirat Ende der 80er Jahre nicht mehr aufstellte, bewahrte sie sie wie ein Kleinod auf!

Als ich im vergangenen Februar die Räumung ihrer Mietwohnung in der Innerschweiz organisierte, sah ich die Schuhchen in ihrer Nachttischschublade. Und als ich meiner (von ihrem zweiten Ehemann verwitweten) Mutter half, die persönlichen Sachen auszusuchen, die sie in die Wohnung ihres dritten lieben Lebenspartners in den Bergen mitnehmen wollte, schenkte sie mir diese Schuhchen. Sie stehen jetzt in unserer Stube hier in Frankreich auf dem Bücherregal, zusammen mit den ersten Schuhchen meiner eigenen Söhne. Eine liebe Freundin schenkte sie mir vor 28 Jahren zur Geburt meines ersten Sohnes und ich finde sie so niedlich, dass ich sie auch ewig aufbewahren und eines Tages an meine Söhne weitergeben werde, obwohl ich weiss, dass sich ihr eigenes Interesse an Nachwuchs vor lauter KI, Informatik und Technik, aber auch aufgrund des sehr beunruhigenden Zustands unseres Planeten in Grenzen hält und sie mit solchen Erinnerungsstücken nicht viel am Hut haben. Noch nicht …

*»Ein kleiner Schritt für mich, aber ein riesiger Sprung für die Menschheit»

https://www.morgenpost.de/vermischtes/article108806627/Was-Neil-Armstrong-auf-dem-Mond-wirklich-gesagt-hat.html

https://www.nzz.ch/feuilleton/sibylle-berg-biografie-ddr-honecker-unfall-medien-ld.1741044?reduced=true

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20. Juni 2023

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