«Was machen denn die da?», fragt Gabriel und hebt erstaunt seine Flügel.
«Moment», antwortet Gott, «sie sind ja gerade erst hereingekommen.»
Gott schaut etwas genauer hin und sieht eine Frau mit einem kleinen Mädchen an der Hand in der Magdalenenkirche in Hintermeggen. Die Frau taucht ihre Finger ins Weihwassergefäss beim Eingang und macht das Kreuzzeichen. Das Mädchen tut es ihr gleich. Dann laufen sie zwischen den Bankreihen aus schlichtem Holz nach vorne. Das Mädchen richtet dabei seinen Kopf nach oben und bestaunt das riesige ovale Gemälde an der Decke. Bei der letzten Bankreihe gehen sie nach links zum schwarzen Kerzenstand mit den Bittkerzen. Sie zünden beide eine Kerze an, machen eine Kniebeugung und setzen sich dann auf die vorderste Bank. Ausser ihnen ist kein Mensch in der Kirche und es ist ganz still. Das Mädchen lächelt und guckt erwartungsvoll auf die Handtasche der Mutter. Diese öffnet sie und greift hinein. Dann nimmt sie etwas heraus, das in ein weisses Taschentuch eingewickelt ist.
«Wollen die etwa picknicken?», fragt Gabriel verblüfft.
«Nein, wart’s ab!», sagt Gott und lächelt dabei geheimnisvoll.
Ganz sorgfältig wickelt die Mutter das Taschentuch auseinander und hält es offen dem kleinen Mädchen hin. Das Mädchen zögert ein bisschen, dann greift es nach der kleinen beigen Scheibe, die auf dem blütenweissen Taschentuch liegt und steckt sie sich in den Mund. Einen Moment lang bleibt die etwas trockene Scheibe ein bisschen wie ein Stück Papier auf seiner feuchten Zunge kleben, dann aber zerkaut das Mädchen sie vorsichtig.
Gabriel schaut Gott verblüfft an und fragt: «Hast du das gesehen?»
«Was für eine Frage!», antwortet Gott amüsiert.
«Hey, die war echt! Und gesegnet dazu!», ruft Gabriel.
«Ja, ich weiss», entgegnet Gott lächelnd.
«Die war für die Mutter bestimmt, nicht für das kleine Mädchen!», ergänzt Gabriel.
«Du hast Recht. Die Mutter hat sie extra für ihre Tochter aufgespart.»
«Das Mädchen ist doch noch viel zu jung dafür!», sagt Gabriel entrüstet.
«Stimmt, seine Erstkommunionfeier ist erst in zwei Jahren», gibt Gott zu.
«Und das stört dich nicht?», fragt Gabriel. «Die Mutter kann doch nicht einfach alle Regeln über den Haufen werfen?»
«Doch, natürlich kann sie das. Erstens sind diese Regeln nicht von mir und zweitens hat diese Mutter den Weg zu mir im etwa gleichen Alter gefunden, ganz allein.»
«Wie meinst du das?»
«Mein Gott, wie neugierig du wieder einmal bist, Gabriel!», ruft Gott. «Du brauchst doch nicht immer alles über die Menschen zu wissen wie ich. Das ist ein Geheimnis zwischen ihr und mir.»
«Okay», sagt Gabriel im Ton einer leicht beleidigten Leberwurst, «aber dieses Mädchen hier ist trotzdem noch viel zu jung.»
«Warum?»
«Na, es begreift das Ganze ja gar nicht, von wegen Leib Christi und so.»
«Das kann gut sein, dass es noch nicht alles versteht, das geht sogar manchen Erwachsenen so, aber es ist auf jeden Fall neugierig darauf.»
«Ach, eben hast du mich getadelt, ich sei zu neugierig», sagt Gabriel und verzieht schon wieder den Mund zum Schmollen.
«Ja», entgegnet Gott mit einer Engelsgeduld.
«Also ist Neugier keine Tugend. Es steckt ja sogar das Wort Gier darin», fügt Gabriel an und ist dabei sogar ein bisschen stolz auf seine eben entdeckte Sprachlogik.
«Ja, von Mensch zu Mensch ist es keine Tugend, aber von Mensch zu Gott ist es eine!»
Copyright Anja Siouda
Dies ist eine von 53 Erzählungen aus dem Buch Tuttifrutti – Humoristische Erzählungen für jeden Geschmack von Anja Siouda. Der Erzählband ist kürzlich in einer Neuauflage als Buch und Ebook bei BoD erschienen. Die 53 Erzählungen sind unterteilt in zwölf Passionsfrüchte, zehn Zankäpfel, dreizehn Maulbeeren, neun Knacknüsse und neun Kichererbsen. Diese Erzählung gehört zur Kategorie Maulbeeren.
Foto: Thanks to Zac Frith (Pexels)
2 Comments
Wunderbarer Humor 😇
Herzlichen Dank!