Kürzlich kam mir beim Diskutieren über das Thema Religionsunterricht eine sehr spezielle Kindheitserinnerung in den Sinn. Ich denke, dass nur die wenigsten so eine Erinnerung vom Primarschulalter haben. Es sei denn, man sei in einem Naturkundemuseum grossgeworden oder mit Eltern, die beruflich im medizinischen Bereich tätig waren.
Ich vermute sogar, heute wäre so etwas undenkbar oder gar unerlaubt. Es geht mir nicht um den Religionsunterricht, den ich selber in der Schule hatte, sondern um jenen, den meine eigene Mutter in den 70er und 80er Jahren als Katechetin in der Innerschweiz hielt. Gerne würde ich sie heute wieder dazu befragen, wie sie denn auf die Idee für das ausgefallene Anschauungsmaterial kam, aber da sie leider an Alzheimer leidet, erinnert sie sich nicht mehr daran.
Meine Mutter war eine fürs Unterrichten begabte, kommunikationsfreudige und sehr tolerante Person. Sie ging stets auf ihre pubertierenden Schüler und Schülerinnen ein, sie hatte damals auch sogenannte Sonderklassen, und wenn die Jugendlichen ihr Fragen zur Sexualität stellten, dann beantwortete sie sie!
Bestimmt verstand sie selber Sexualität als ein Geschenk Gottes, doch wie sie diese Fragen damals konkret mit dem Religionsunterricht verband, weiss ich nicht, aber ich kann mich noch daran erinnern, dass sie erzählte, wie aufmerksam die Schüler und Schülerinnen jeweils waren, wenn es um Sexualunterricht ging. Dieses Thema interessierte sie natürlich brennend.
Und so kam es, dass meine Mutter eines Tages von irgendwoher eine ganze Sammlung von echten Föten nachhause brachte! Ich frage mich heute, wo sie dieses aussergewöhnliche Unterrichtsmaterial wohl ausgeliehen hatte. Vielleicht im Kantonsspital? Diese Embryos in verschiedenen Entwicklungsstadien, die in ihren Glasquader-Behältern in einer durchsichtigen Flüssigkeit schwammen, standen bei uns zuhause einige Zeit fein säuberlich geordnet wie Matroschkas auf dem alten Büfett aus dunklem Holz, bis meine Mutter sie nicht mehr für ihren Unterricht benötigte. Dieses Bild sehe ich noch vor mir. Mich beeindruckten und faszinierten diese Menschlein und ich hoffe, die Schüler und Schülerinnen meiner Mutter erinnern sich heute auch noch daran und fanden später in ihrem Leben ihren Weg zu einer aufgeklärten, erfüllten und verantwortungsvollen Sexualität.
Selber hatte ich das Glück, acht bzw. zehn Jahre nach meiner Heirat und bewusst erst nach Abschluss meines Studiums zwei Wunschkinder zu bekommen. Damals war für mich und für meinen Mann die Familienplanung im völligen Einvernehmen abgeschlossen und ich liess mich mit 31 Jahren sterilisieren. Übrigens genau wie meine Mutter nach meiner Geburt. Ich war ihr drittes Kind. Ich habe den Eingriff wie sie nie bereut und geniesse seither eine sorglose Sexualität. Dass meine Wahlheimat Frankreich das Recht auf Abtreibung kürzlich in der Konstitution verankerte, begrüsse ich sehr, doch bin ich froh, dass ich im Leben nie mit der schwierigen Entscheidung einer Abtreibung konfrontiert war.
Copyright Anja Siouda, 26. April 2024
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4 Comments
liebe Anja, speziell, diese Erfahrung. Auch bewegt es mich , dass deine Mutter diese » EmbryoGläser» jetzt ganz vergessen hat, die Alzheimer Diagnose ist wohl der Schlüssel dafür. In deiner Familie spielen verschiedene Relikte aus der «Sparte» Sexualität eine Rolle. Ich erinnere mich an einen ganz speziellen Fund, den du in deinem genialen Buch -was Erin entdeckt- beschrieben hast. Danke für deine oft intimen Einblicke in dein Leben! liebe Gruess us Luzärn💐
Herzlichen Dank, liebe Liisa, für dein positives Feedback zu diesem Blogbeitrag und fürs Kompliment zu «Was Erin entdeckt». Herzliche Grüsse nach Luzern! Anja
Liebe Anja, an das alte Büffet deiner Mutter, meiner Freundin, aus dunklem Holz kann ich mich sehr gut erinnern. Sie hatte es von ihrer Schwiegermutter übernommen. Meine Schwiegermutter hatte das genau gleiche aus Eichenholz dunkel gebeizt. Wenn ich mich richtig erinnere, hat R. es später ablaugen lassen und so hell, wie es nun war, gefiel es mir viel besser. Vom «Anschauungsmaterial» wusste ich nichts! Ich wusste auch nicht, dass R. so weitgehende Kompetenzen hatte, um den Unterricht zu gestalten. Zwar wusste ich natürlich bestens, dass sie Katechetin war aber ich dachte, dass dieser Unterricht in etwa so sei, wie damals unser Religionsunterricht nach der Schule in Zürich, da hörten wir biblische Geschichten und mussten den Katechismus auswendig lernen.
Herzlichen Dank für deinen Kommentar, liebe Heidi. Was für ein Gedächtnis du hast! Und was für ein Zufall, dass deine Schwiegermutter das gleiche Büffet hatte!! Mit herzlichen Grüssen