Der Ort macht seinem Namen alle Ehre! Frei übersetzt auf Deutsch hiesse er nämlich: Storchenturm. Bordj steht für Turm und Arreridj für Störche. Ausgesprochen wird der Ortsname übrigens Bordsch Bu Arreridsch. Und Störche hat es hier im Mai überall. Nicht nur auf Astgabeln abgestorbener, dürrer und wie Knochen aussehender, aber immer noch fest im trockenen Boden verwurzelter Baumstrünke etwas ausserhalb vom Zentrum, sondern vor allem mitten in der Stadt: Auf Telefonmasten, auf Strassenlaternen, auf Ampeln, auf den Dächern von Häusern mit hochmodernen Glasfassaden und auf den silbrigen Kuppeln der Moscheen!
Noch nie im Leben habe ich so viele Störche und Storchennester gesehen wie in Bordj Bou Arreridj. Sie lassen sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Weder durch das laute Hupen der Autos noch durch den durchdringenden Ruf der Muezzins. Auch die Einwohner der algerischen Stadt beachten sie längst nicht mehr, obwohl die Vögel doch ganze Arbeit leisten. Sie gehören hier genauso selbstverständlich zum Stadtbild wie die Parks voller spielender Kinder oder wie bei uns die mit Chemie zwangssterilisierten Taubenscharen auf den leeren Kinderspielplätzen. Nur Touristen wie ich zeigen jedes Mal hingerissen auf die riesigen, massiven Nester, wo die grossen schwarzweissen Tiere mit ihren langen Schnäbeln sitzen, stehen oder tänzelnd auffliegen, zücken den Fotoapparat und fotografieren hundertmal das fast gleiche Storchenfamilien-Sujet.
Eine Erlaubnis zum Ablichten verlangen die grossen Vögel natürlich nicht, ganz im Gegensatz zu den Bettlern, die man auch hie und da sieht. Deren trauriger Anblick lässt einen als Tourist schnell wieder auf den steinharten Boden der Realität kommen: Gepflogenheiten in den eigenen Breitengraden kommen einem plötzlich völlig abstrus, ja geradezu dekadent vor. Zum Beispiel Storchpatenschaften oder auch Froschzäune, aber über die wollte ich eigentlich gar nicht sprechen, obwohl auch sie mit den Störchen in Verbindung stehen könnten, denn dank der kilometerlangen Plastikschutzzäune zur Rettung der liebestrunkenen quakenden Amphibien, die manche Schweizer Strassen im Frühling säumen, wird natürlich das Nahrungsangebot für die Störche garantiert.
Nein, es geht mir hier um die Patenschaften für Störche oder auch für Pferde, Kühe und Schweine. Menschen bezahlen in der Schweiz, aber auch in anderen Ländern Europas, tatsächlich Geld, damit der Lebensraum der Störche in der Schweiz erhalten bleibt. Empfohlen werden Patenschaften als Geburts- oder Hochzeitsgeschenke, mit oder ohne Hintergedanken, das bleibt dahingestellt, und es werden extra Zertifikate ausgehändigt. Einem Bettler in Bordj Bou Arreridj, der von klein auf mit dem Storch aufgewachsen ist, würde das Prinzip der Storchenpatenschaft bestimmt so aberwitzig vorkommen wie zum Beispiel die Tatsache, dass Tiere in der Schweiz (zumindest in Zürich) einen offiziellen Anwalt haben. Mit dem Geld für eine einzige Patenschaft, fast hundert Franken, liesse sich in Bordj Bou Arreridj nämlich gut zwei Wochen leben.
Wofür aber braucht man denn in der Schweiz das über die Patenschaften gesammelte Geld konkret? Wie oben schon erwähnt, um den Lebensraum des Storches zu erhalten, dazu gehören Rast-, Nahrungs- und Nistplätze, um ihn vor der Jagd zu bewahren, um die Bevölkerung aufzuklären und um allgemein die Toleranz gegenüber dem Storch zu fördern, klärt einen eine Storchenpatenschaftswebseite auf. Genau das aber bieten die Einwohner von Bordj Bou Arreridj den Störchen ganz selbstverständlich seit Jahrhunderten, ohne dass je eine Extra-Stiftung dafür gegründet werden oder jemand dafür Geld hinblättern musste. Und ohne dass die Bewohner dieser Stadt je ein Zertifikat oder sonst irgendeine offizielle Anerkennung dafür bekommen hätten.
Was wohl die Meinung des Storches zum Thema wäre? Fühlt er sich mit oder ohne Paten wohler? Er hat es mir noch nicht geklappert, aber fest steht eines: Der Storch schert sich weder in Bordj Bou Arreridj noch in der Schweiz um Baubewilligungen für seine riesigen Horste, geschweige denn um das Zertifikat mit der Eltern-ISO-Norm, wenn er die bestellten und die nicht bestellten Babys in die Arme von Müttern und Vätern legt.
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