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Habb ar-Rumman: Granatapfelkernchen

Was eine Granate ist, wissen Sie? Genau, ein Sprengkörper, ein mörderisches Wurfgeschoss, das man in unseren Breitengraden zum Glück nur aus Kriegsfilmen, aus Computerspielen, aus Tagesschau-Nachrichten oder aus dem Geschichtsbuch kennt.

Bei einer Granate denkt man als Deutschsprachiger vor allem an eine Handgranate, eine Waffe, und nicht an den leckeren Granatapfel vom opulenten Supermarktregal voller exotischer Früchte. Eine Granate und ein Granatapfel sind tatsächlich zwei verschiedene Dinge, aber im Französischen beispielsweise gibt es für beide, für die Frucht wie für die Waffe, das gleiche Wort grenade. Etymologisch gesehen besteht aber kein Zweifel, dass die im Mittelalter erfundene Handgranate auch im Deutschen mit dem Granatapfel zusammenhängt. Auf Lateinisch bedeutet granatus «kornreich» und malum granatum «kornreicher Apfel». Sowohl das Innere des Granatapfels wie dasjenige der Handgranate besteht aus zahllosen Einzelteilchen: hier himmlisch schmeckende Kerne, dort tödliche Splitter. Und beide platzen, wenn man sie auf den Boden wirft.

Über die schreckliche Handgranate und ihre verheerende Wirkung mag ich gar nicht weiter sprechen, aber dafür über den paradiesischen Granatapfel! Der ursprünglich aus Mittelasien stammende Granatapfel ist eine herrliche Frucht mit einem überaus erstaunlichen, köstlichen Innenleben. Nicht ohne Grund wird er auch Speise der Götter genannt und steht seit jeher für Liebe, Fruchtbarkeit, Jugend und Schönheit. Er sei auch ein Aphrodisiakum, kann man vielerorts lesen. Er kommt sowohl in der griechischen Mythologie vor als auch in der Bibel, wo er mehrmals zitiert wird, vor allem im Hohelied und im Buch Mose.

Von aussen betrachtet wirkt er zwar unscheinbar, abgesehen von der manchmal tiefroten Farbe, aber innen sieht er wunderschön aus und zudem ist er äusserst raffiniert verpackt. Beim Schälen muss man aufpassen, es ist nämlich nicht nur der Saft der rubinroten Kerne, der die unauslöschlichen Flecken verursacht, sondern auch die bittere Innenseite der Schale, die einen Gerbstoff enthält, der früher zum Gerben von Ziegenhäuten verwendet wurde, um sie, zusammengenäht, als Behälter für hausgemachte Sauermilch zu verwenden. Noch in den 70er-Jahren wurde in Nordafrika auf diese Weise Ziegenleder gegerbt. Heute aber macht das wohl kaum noch jemand, einerseits, weil man, wenn man das Geld hat, auch in Nordafrika Sauermilch und Joghurt bequem kaufen kann, und andrerseits, weil man vielleicht längst aus China importierte Billigbettflaschen aus Kautschuk fürs Zubereiten von Sauermilch zweckentfremdet.

Für mich sind die Granatapfelkerne auf jeden Fall eine bare Kostbarkeit, eines der vielen kleinen Wunder der Natur. Es sind essbare Rubine. Knackig frisch, leicht säuerlich und süss zugleich lassen sie sich einzeln im Munde zerbeissen. Sie sind nicht nur eine Augenweide, sondern auch eine wahre Gaumenfreude. Man kann sie aber statt einzeln auch handvollweise geniessen, und sie schmecken dann am besten, wenn man sie nicht selber schälen muss, sondern wenn jemand anders es für einen tut. Mein Mann macht es meistens für mich. Er hat die angeborene Engelsgeduld dafür, die mir völlig abgeht, und er schält sie wirklich hingebungsvoll. Das Schönste aber am Granatapfelkernchen ist, wenn meine algerische Schwiegermutter mich mit diesem von ihr erfundenen arabischen Kosenamen Habb arRumman anspricht.

Dies ist eine von 53 kurzen Erzählungen aus «Tuttifrutti – Humoristische Erzählungen für jeden Geschmack“ von Anja Siouda, Neuauflage 2019, BoD, Buch und Ebook (Erstauflage, ProLibro Luzern)

Copyright Anja Siouda

Foto von Jessica Lewis (Pexels)

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