Wegen des Covers (siehe unten), das abgesehen vom ungewöhnlichen Titel in Bezug auf Bild und Grafik doch recht unscheinbar daherkommt, hätte ich das kleine Buch von Thomas Heimgartner „Kaiser ruft nach“, 2019 erschienen bei Edition pudelundpinscher, bestimmt nicht gekauft! Auch nicht wegen des Klappentextes, den ich zum Glück nur quergelesen habe, sodass ich nicht schon vor der Lektüre eines Spannungselementes beraubt wurde.
Es war aber einerseits das überzeugende Auftreten des mir bis anhin unbekannten Innerschweizer Autors bei seiner Lesung anlässlich des Bücherjahrs des ISSV in der Loge in Luzern am 7. Dezember 2019, wozu ich ebenfalls zum Lesen eingeladen war, das mich zum Erwerb der 134-seitigen „Nekrovelle“ bewog und andrerseits interessierte mich das Thema des Nekrologs, hatte ich mir doch als Schriftstellerin auch schon die Frage gestellt, ob ich Nachrufe für meine Eltern nicht besser Jahre im Voraus schreiben würde, weil ich im Moment, wo ich mit dem Tod meiner Mutter oder meines Vaters konfrontiert sein würde, emotional nicht mehr dazu fähig sein dürfte. Tatsächlich habe ich die separaten Lebensläufe meiner Eltern bereits, ich könnte also vieles im Voraus redigieren und einiges dann nur noch kurz anpassen, wenn ich mich endlich dazu aufraffen würde.
Nicht todtraurig, sondern witzig
Dass es in Heimgartners kleinem Werk nicht todtraurig, sondern witzig zu und her geht, merkt man schon an der literarischen Gattung, da der Autor diese wortspielerisch mit dem ironischen Neologismus „Nekrovelle“ bezeichnet und im Titel das Verb „nachrufen“ in Anlehnung an den „Nachruf“ im wörtlichen und übertragenen Sinn benutzt. Somit ist der Ton schon angegeben, denn auch sonst fehlt es dem spritzigen Text weder inhaltlich noch formal an Humor.
Was die ungewöhnliche, komplexe Erzählform angeht, so zeichnet sich die „Nekrovelle“ von Heimgartner durch den überraschenden Sprung vom personalen Erzähler zum Ich-Erzähler, sowohl am Anfang jedes Kapitels, im stückweise analysierten Nekrolog über Kaspar Kaiser selbst, wie auch im Haupttext aus. Es ist eine raffinierte, ausgeklügelte Erzählweise, die dem Germanisten, aber vielleicht nicht jeder anderen Leserschaft auffällt.
Unverfroren aber amüsant
Recht unverfroren aber amüsant sind auch die Unterstreichungen, die durchgestrichenen Passagen, der Einschub von Drehbuch-Szenen, die Bildgedichten nachempfundene Sätze und der Nekrolog-Leitfaden im Text. Einmal gibt es gar eine halbseitige leere Stelle, wo Platz für die Phantasie des Lesers ist, der sich „Palmen, Strohschirme und Cocktails“ (S. 59) vorstellen soll.
Da Heimgartner auch Deutschlehrer an einem Gymnasium ist, hat er mit seiner Nekrovelle vielleicht bewusst einen unterhaltsamen kurzen Text für Gymnasiasten geschrieben, ein erzähltechnisches Patchwork, das die Schüler zwecks Übung wieder auseinandertrennen dürfen.
Inhalt und Form
Auch dass Inhalt (Thema Nekrolog) und Form (Nekrologabschnitte) teilweise eins sind, ist nicht gerade alltäglich, geht es doch um das von verschiedenen Stimmen bzw. aus verschiedenen Perspektiven erzählte Leben des Nekrologschreibers Kaspar Kaiser. So steht am Beginn jedes Kapitels ein Abschnitt eines Nekrologs über Kaspar Kaiser, den sein Jugendfreund Yves Sommerfeld verfasst hat und der im weiteren Verlauf jedes Kapitels von Kaspar Kaiser selbst auf seine Platitüden analysiert und mit dem Ausgesparten ergänzt wird. Dass das paradox ist und irgendetwas nicht stimmen kann, weil ja Kaspar tot sein muss, da es einen Nekrolog über ihn gibt, während er diesen noch kommentiert, ist ein Rätsel, das erst gegen das Ende hin aufgelöst wird.
Vom verwaisten Jurastudenten zum Nekrologen
Kaspar Kaiser wächst als Einzelkind auf, wird als Jurastudent Vollwaise, nachdem seine Eltern in Katmandu bei einer Busfahrt ums Leben kamen, bricht darauf das Studium ab und bewirbt sich als Praktikant bei einer Zeitung. Jurist und Journalist waren früher seine Traumberufe und dank dem Erbe seiner Eltern macht er sich mehr auf die Suche nach einer interessanten Beschäftigung als nach einem wahren Broterwerb. Nach Ende des Praktikums lernt er in Luzern Sara kennen, die Primarlehrerin ist und politisch links steht. Weil er mit ihr zusammen sein will, verzichtet er auf seinen geplanten Wohnortswechsel und bewirbt sich nochmals bei der gleichen Zeitung um eine Stelle. Da er die Praktikumsstelle ziemlich arrogant verlassen hat, muss er sich nun klein machen und schlägt dem Chef Walter Schneider* vor, die Redaktion der Nekrologe zu übernehmen, die niemand gerne ausführen will. Da er als Student emotional nicht fähig gewesen war, einen Nachruf auf seine Eltern zu schreiben, hat das Interesse an dieser Art von Texten auch mit Kompensation und Traumabewältigung zu tun. Er bekommt den Job, sinniert fleissig und mit viel Humor über Nekrologe und legt sogar ein „Archiv der lebenden Toten“ (S. 43) an, indem er die Nachrufe von Persönlichkeiten im Voraus schreibt, damit er sie auf Abruf zur Verfügung hat. „Es zeigte sich, dass ich beim Antizipieren der Tode eine glückliche Hand hatte.“ (S. 43) Über die Beziehung zu Sara, die bei den Jungsozialisten ist, kommt Kaspar auch wieder mit seinem Jugendfreund Yves in Kontakt, der in der gleichen Partei aktiv ist. Kaspar zieht mit Sara zusammen und ihre Beziehung funktioniert fünf Jahre recht gut. Er beschreibt sie unter anderem so: „Ich legte für Sara kein Minenfeld aus, sondern einen Landeplatz.“ (S. 52)
Zu früh publizierter Nekrolog wird zum Verhängnis
Yves politischer Gegner ist der bürgerliche Josef Abegglen** und der Zufall will, dass dieser eines Tages, als Kaspar Sara geheiratet hat und mit ihr die Flitterwochen verbringt, seinen eigenen Nachruf in der Zeitung entdeckt. Wie der Fehler genau passierte, bleibt unklar, aber diese Blamage kostet Kaspar die Stelle, worauf er sich selbständig macht und neben einem Bestattungsinstitut ein Textbüro für Nekrologe eröffnet. Die Kundschaft ist jedoch rar, was an Kaspars mangelndem Taktgefühl und der fehlenden Pflege der Kundenbeziehungen liegt. Der Einfachheit halber verfasst er einen Leitfaden für Nekrologe, den er den Kunden aushändigt.***
Da Kaspar Kaiser eines Tages die für ihn unerklärliche Inschrift Machu Picchu statt seines eigenen Namens auf der Innenseite des Eherings von Sara entdeckt, sie aber dazu nicht befragt, sondern sofort seine eigenen fantastischen Schlussfolgerungen anstellt und sich Yves, der ihm in früheren Jahren einmal eine Postkarte vom Machu Picchu geschickt hat, sogleich als Saras Liebhaber vorstellt, stürzt er sich in die Reuss …
Foto Blog: Thanks to Mike (Pexels)
*Der Protagonist Walter Schneider trägt seinen Namen vermutlich nicht zufällig, «waltet» er doch als Chef und «be/schneidet» er Artikel …
**Das schweizerische Idiotikon führt zum Verb «abegglen» folgendes auf: «a(n)beckle, zu «an-bëcken», durch Hacken beschädigen, z.B. Kartoffeln beim Aushacken». Gerade der linke Yves Sommerfeld rät Kaspar Kaiser einmal ironisch dazu, seinen politischen Gegner doch über einen verfrühten Nachruf totzuschreiben. (S. 48)
***Die zwölf aufgeführten Tipps lesen sich für mich ein bisschen wie Ratgeberpassagen zum Schreiben einer Autobiographie auf der Webseite meet-my-life.net
1 Comment
KLingt sehr spannend! Danke!