Oder besser gesagt, eine schwindelerregende Art zu schreiben hat die bekannte Schweizer Autorin Ruth Schweikert, von der ich zum ersten Mal ein Werk gelesen habe. Auf ihr jüngstes Buch «Wie wir älter werden» (bei S.Fischer 2015 erschienen) kam ich rein zufällig, bei meinem letzten Besuch in meiner Heimatstadt Luzern, bei einem kleinen Bücherkasten am Helvetiaplatz, wo ich mit meiner besten Schulfreundin vorbeispazierte. Es war einer dieser originellen öffentlichen Bücherschränke, die in letzter Zeit sehr in Mode gekommen sind, wo man einfach irgendein Buch hineinstellen und dafür irgendein anderes mitnehmen kann.
Das dicht geschriebene Buch von Schweikert entwickelt gleich von Anfang an einen eigentümlichen Sog und zwar weil die komplexen, ungewöhnlichen und teilweise tabuisierten Familienverhältnisse angetönt, aber nicht im Detail erklärt werden. Und weil das Buch den Faden der Familiengeschichte vom Ende her entrollt: vom Moment, wo die Figuren Jacques und Friederike, die Eltern, schon über achtzig sind, und ihre Kinder erwachsen und selber längst mehrfache Eltern.
Zu Beginn macht man sich aus der Perspektive von Vater Jacques Brunold, der sich sehr vorsorglich um die jetzt pflegebedürftige Friederike kümmert, ein Bild seiner eher seltsam anmutenden Tochter Kathrin, aber im Laufe der Geschichte versteht man diese Hauptfigur immer besser. Wie auch ihre Halbschwester Iris, weil die Autorin deren Innenleben im Detail offenlegt und dabei nach und nach und über Jahrzehnte hin die ganzen Familiengeheimnisse preisgibt. Man darf sich dabei aber keine chronologische Abfolge vorstellen. Auch rückwärts nicht.
Tatsächlich stehen die Töchter Kathrin (Brunold) und Iris (Seitz) im Mittelpunkt, aber um sie herum schweben wie Planeten oder hie und da auch abstürzende Kometen die anderen Kinder von Jacques und Friederike Brunold, Johannes und Sebastian, wie auch Sabine, die zweite Tochter von Jacques und Helene, und Miriam, das (in Wahrheit) einzige gemeinsame Kind von Helene und Emil Seitz, die mit zwanzig Jahren auf tragische Weise stirbt. Dazu kommen unsäglich und eigentlich auch ziemlich unerträglich viele Nebenfiguren, Verwandte, Nachbarn, Freunde, deren eigene Geschichte auch kürzer oder länger beschrieben wird, was den Leser wirklich verwirrt.
Sogar von Dr. Timur Bezgiav, dem Arzt von Jacques, der aus Tschetschenien geflüchtet ist, zuerst in der Schweiz lange Jahre Asylbewerber war, nun aber längst anerkannter Flüchtling ist, bekommt der Leser zu Beginn eine ausführliche Lebensgeschichte geliefert, und dann wartet er vergeblich auf eine Fortsetzung.
Um die Wahrheit zu sagen: Ich war mehrmals versucht, das Buch wegzulegen. Einfach weil es so völlig nahtlos von einem Protagonisten zum anderen rollt, und weil man bei all den Figuren wirklich den Zusammenhang verliert. Diesen nahtlosen Übergang von einer Figur und einer Perspektive zur anderen ist allerdings auch eine Kunst! Wie manche Einzelromane hätte die Autorin aus jedem einzelnen Schicksal heraus entwickeln können! Offenbar ist ihre Phantasie in dieser Hinsicht ganz unerschöpflich. Das aber wollte sie nicht. Trotzdem erinnert mich das Buch an die Zellteilung: Eine Zelle teilt sich wieder und wieder und das ganze Gebilde entwickelt sich zu einem schier unübersichtlichen Ganzen. Oder dann ist es ein Knäuel, aus dem der Anfangserzählfaden und der Endfaden einzeln und klar identifizierbar herausgucken.
Will man übrigens eine Rezension schreiben über ein Buch, muss man es mindestens zweimal genau lesen, und sich fleissig Notizen machen, um dem Werk auch wirklich gerecht zu werden. Schliesslich versteht man beim zweiten Lesen meistens alles besser und auch die raffinierten Konstruktionen und Zusammenhänge entdeckt man so viel leichter. Ich habe es mir aber trotzdem nicht angetan, weil es eben schon bei der ersten Lektüre ein Durchbeissen war. Lieber nehme ich mir vielleicht demnächst einen der älteren Romane von Ruth Schweikert vor, schliesslich ist die Autorin Trägerin des Preises der Schweizerischen Schillerstiftung für frühere Werke und diverser anderer Preise jüngeren Datums. Leichte Kost sind wahrscheinlich auch ihre früheren Werke nicht, aber mit leichter Kost gewinnt man normalerweise auch keinen Literaturpreis.
In der Mitte des Romans kommt völlig unerwartet eine ziemlich abstossende Sex-Szene bar jeder Erotik oder Romantik. Ich frage mich, warum diese Szene in ihrer Ausführlichkeit nötig war, denn zum Verständnis des Gesamtromans bzw. der Figur Kathrin trägt sie kaum etwas bei. Muss ein Roman einer preisgekrönten Autorin auch eine unsäglich krude Sexszene aufweisen? Sex sells, wie immer?
Es ist ein durchwegs moderner Roman: Die meisten aktuellen Themen der Gegenwart (und einige ältere historische Ereignisse) werden angesprochen, manchmal auch nur ganz am Rande. Pädophilie, Geschlechterumwandlung, terroristische Attentate (Breivik, 11. September, olympische Spiele München), Veganismus, Burn-Out, Drogensucht, Magersucht, Treuelosigkeit, Beziehungslosigkeit, steter Partnerwechsel (insbesondere auch der Frau), interkulturelle Ehen, im Rückblick auch Aids, die Raumfahrtmission Apollo oder der unselige Skiunfall von Schuhmacher.
Hie und da kommen auch, sozusagen wie ein Augenzwinkern mir gegenüber, die ich praktisch der gleichen Generation angehöre wie Ruth Schweikert, typisch schweizerische Elemente vor, z.B. der Hinweis auf die von mir seit 35 Jahren total vergessene Gratiszeitschrift «Musenalp-Express», die in den 80er Jahren an den Mittelschulen auflag oder auf die Calida-Pyjama-Werbung vom Bündchen, das nicht am Rücken hochrutscht. Wahrscheinlich werde ich diese Erinnerung an die Jugendzeitschrift «Musenalp-Express» in Zukunft immer in Verbindung mit Schweikerts Roman bringen.
Als Autorin frage ich mich, wie wohl die Arbeitsskizze von Schweikert zu diesem Buch aussieht. Zumal ihr letzter Roman «Ohio» zehn Jahre zurückliegt, weil sie als Mutter von fünf Kindern und als Dozentin am Literaturinstitut in Biel bestimmt mehr als genug zu tun hat. Wie hat sie es geschafft, die immense Zahl der Protagonisten und all diese Details aus dem Leben und der Erfahrungen der einzelnen Personen während des Schreibprozesses im Kopf zu behalten?
Zum besseren Verständnis des Romans findet man hier ein interessantes Gespräch mit Ruth Schweikert auf SRF Kultur:
http://www.srf.ch/sendungen/52-beste-buecher/wie-wir-aelter-werden-von-ruth-schweikert