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Die Art-Brut-Künstlerin Séraphine de Senlis

Im Roman «Was Erin entdeckt» geht es unter anderem auch um die beeindruckende Art-Brut-Künstlerin Séraphine de Senlis. Hier ist ein kurzer, leicht knisternder Ausschnitt mit den Protagonisten Erin und Alexander aus der Mitte des Romans:

«Ich wollte Ihnen sowieso einmal einen besonderen Film vorschlagen, ich habe ihn auf dem Laptop.»

«Ach ja?», fragte Erin überrascht. «Was für einen denn?»

«Séraphine.»

Erin schüttelte den Kopf. «Der Titel sagt mir überhaupt nichts.»

«Es ist eine biographische Fiktion über das Leben von Séraphine von Senlis, eine Art-Brut-Künstlerin.» 

«Oh», sagte Erin höflich.

«Ich denke, ich kenne Sie nun ein wenig. Ich glaube, dieser Film wird Ihnen gefallen», ergänzte Alexander, stand auf, holte seinen Laptop aus seinem Koffer, setzte sich damit an das Kopfende seines Bettes und streckte seine langen Beine aus.

«Etwas Bequemeres kann ich Ihnen leider nicht anbieten, aber setzen oder legen Sie sich doch einfach neben mich und ich spiele den Film ab.»

Erin zog ihre Schuhe aus, setzte sich artig ans Kopfende neben Alexander, der ihr vorsorglich ein Kissen hinter den Rücken schob, roch dabei sein After Shave intensiver als sonst und sagte sich, dass dies eine etwas kuriose Art und Weise war, das Bett mit einem fast fremden Mann zu teilen.

Alexander fand den Film sofort, stellte den Lautsprecher ein und rückte den Laptop zu Erin hin, sodass er auf seinen linken und ihren rechten Oberschenkel zu liegen kam.

Der französische Film erzählte das Leben der bescheidenen, einsamen Hausangestellten Séraphine Louis in Senlis, die sehr naturverbunden aber auch sehr religiös war und die ihr sinnliches Erleben der Natur als autodidaktische Künstlerin in kraftvollen, ausdrucksstarken, mystisch anmutenden Bildern wiedergab, wofür sie die Farben selber herstellte. 1913 wurde sie per Zufall vom deutschen Kunstkritiker und Sammler Wilhelm Uhde entdeckt, bei welchem sie als Haushälterin arbeitete und welcher schon den Douanier Rousseau entdeckt und sich für Braques und Picasso interessiert hatte. Er wurde Séraphines Mäzen, förderte ihr künstlerisches Talent, kaufte und verkaufte einige ihrer Bilder, musste aber wegen des ersten Weltkriegs bald aus Frankreich flüchten. Seine bedeutende Kunstsammlung wurde während des Kriegs beschlagnahmt, sodass er sich nach dem Krieg eine neue Sammlung zusammenstellen musste, wobei er sich mehr auf die naiven Künstler wie Séraphine konzentrierte, mit der er 1927 wieder Kontakt aufnahm. Da sie unfähig war, mit der beträchtlichen Menge Geld umzugehen, driftete Séraphine nach 1930, als Uhde wegen der Weltwirtschaftskrise keine ihrer Bilder mehr verkaufen konnte, in einen religiösen Wahn ab und wurde in eine Irrenanstalt gesteckt, wo sie 1932 starb.

Der zweistündige Film zog Erin sofort in ihren Bann. Sie wollte nicht einmal eine Pause einlegen, um ein paar Sandwiches zu bestellen, wie Alexander einmal kurz vorschlug. Sogar dass der Laptop auf ihrem Oberschenkel je länger, umso heisser wurde, merkte sie nicht. Bei der Szene, wo Séraphine in der Irrenanstalt in einer Zwangsjacke minutenlang und von der ganzen Welt verlassen herzzerbrechend schluchzte, konnte auch Erin ihre Tränen nicht zurückhalten. Es war zudem unerträglich mitanzusehen, wie sogar Wilhelm Uhde vom Pflegepersonal abgewiesen wurde. Er durfte Séraphine nicht besuchen, nur durch ein Guckloch beobachten. Auch Uhde machte dies schwer zu schaffen. Dass ihm sowieso eine besondere Sensibilität in die Wiege gelegt wurde, hatte der Film bereits früher gezeigt: Uhde lebte eine diskrete Liebesbeziehung mit dem jungen Maler Helmut Kolle.

Erin nahm das Taschentuch, das Alexander ihr sachte an die Wange hielt, wischte sich die Tränen weg, schnäuzte sich verlegen und sagte: «Entschuldigen Sie bitte.»

«Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen. Als ich den Film zum ersten Mal sah, ging es mir genau gleich. Inzwischen kann ich die Szene einigermassen aushalten», erklärte Alexander sanft und Erin sah, dass auch er feuchte Augen hatte.

Alexander blickte auf die Uhr – es war bereits 22 Uhr – zog den Laptop von Erins Oberschenkel, stand vom Bett auf und schloss das Gerät bei seiner Nachttischablage zum Laden an einen Adapter an. Dann zog er die Vorhänge bei der grossen Fensterfront beiseite und legte sich noch einmal aufs Bett neben Erin, die sich gerade höflich erheben wollte.

«Bleiben Sie doch noch einen Moment», sagte Alexander leise und fasste sie behutsam am Arm. Erin zögerte einen Moment, legte sich dann aber wieder hin.

«Sie haben ja die Aussicht noch gar nicht bestaunt. Schauen Sie!» Alexander machte eine ausladende Bewegung, löschte das Licht am Schalter über dem Bett und blickte auf die hellerleuchtenden Ufer des Ria de Bilbao, die sich im Wasser spiegelten. Die Sicht auf den Fluss war wirklich faszinierend, aber Erin konnte sich nun nicht mehr darauf konzentrieren. Die Nähe zu Alexander, das gemeinsame intime Sitzen auf seinem Bett, jetzt wo sie keinen Film mehr anschauten, brachte sie plötzlich durcheinander. Obwohl Alexander ihren Arm wieder losgelassen hatte, fühlte sie noch immer seine Berührung. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, ihm mit ihrer Hand durch sein schön gewelltes, graumeliertes Haar zu fahren …

22.01.2024

Copyright Anja Siouda, Auszug aus dem Roman «Was Erin entdeckt», BoD 2021, Seiten 133-136

Bei der Arte Mediathek kann der Film gemietet werden:

https://boutique.arte.tv/detail/seraphine

Es gibt dort auch noch einen älteren kurzen Dokumentarfilm über die Künstlerin

https://www.arte.tv/de/videos/085197-007-A/the-lost-ones-seraphine-de-senlis/

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