Die Frau im Tram vis-à-vis starrte schon die ganze Zeit auf ihn, das fühlte Richard, der junge Mann mit dem Pferdeschwanz, obwohl er so tat, wie wenn er in den Artikel über Long-Covid-Geschädigte auf seinem Smartphone vertieft sei. Natürlich fixierte sie nicht sein Gesicht, denn dieses war zu einem grossen Teil hinter seiner Maske in Regenbogenfarben verborgen, auf der «Ehe für alle» stand. Er trug sie schon seit Wochen aus Überzeugung, weil er fand, auch in der modernen Schweiz sei es höchste Zeit für diesen Schritt. Dass ein Referendum gegen die neue Gesetzesvorlage, die die eidgenössischen Räte im Dezember 2020 verabschiedet hatten, ergriffen worden und dank der nötigen Unterschriften zustande gekommen war und dass nun das Schweizer Volk darüber abstimmen musste, schmerzte ihn geradezu. Schliesslich hob Richard den Kopf und schaute auf das mit einer rosa Maske bedeckte Gesicht der Frau gegenüber. Sie hob den Blick ebenfalls.
«Ja?», sagte Richard, weil ihm die unverhohlene Gafferei langsam aber sicher auf den Wecker ging.
«Was denn?», fragte die Frau, die wahrscheinlich doppelt so alt wie er selber war. Es war nicht so leicht zu erkennen, hinter der Maske, aber ihre grauen Schläfen und der helle Scheitel verrieten, dass sie ihre Haare färbte. Sie trug auch ein nicht übersehbares Augen-Make-up, das ihre Fältchen nur schlecht kaschierte. Er vermutete, dass sie mit einem starken Parfüm behaftet war, es hätte zu ihrer Aufmachung gepasst, aber sicher war er sich natürlich nicht.
«Möchten Sie etwas wissen von mir? Haben Sie irgendeine Frage?», insistierte Richard nun, recht kühn geworden hinter seiner Maske, die ihm plötzlich wie ein Schutzschild und wie eine Kampfansage zugleich auf dem Gesicht zu kleben schien.
«Nein, wie kommen Sie denn darauf?», fragte die andere scheinheilig zurück.
«Das glaube ich Ihnen nicht! Sie starren mich doch schon die ganze Zeit an!», sagte Richard noch offensiver.
«Nun …», antwortete die Frau zögerlich und rutschte mit sichtlichem Unbehagen auf ihrem Sitz herum. «Ihre …»
«Meine Maske?», fiel er ihr ins Wort. «Stört Sie die?»
«Nein, nein, wir leben ja in einem freien Land, jeder darf seine politische Meinung zur Schau tragen.»
«Mir geht es nicht um Politik, mir geht es um ein Menschenrecht!», erklärte Richard ziemlich laut, sodass sich einige Leute im Tram zu ihm umdrehten.
«Ein Menschenrecht?»
«Genau. Es darf keinen Unterschied geben. Jeder Mensch soll die Freiheit haben, denjenigen Menschen zu heiraten, den er will.»
«Ich habe nichts Gegenteiliges behauptet», erwiderte die Frau.
«Okay», sagte Richard und schnaufte hörbar hinter seiner Maske. Er hatte vermutlich keinen Mundgeruch, aber es wurde ihm trotzdem beinahe übel. Leider war es seit fast einem Jahr regelmässig so. Er schaute auf die Anzeige beim Tram. Es kamen noch zwei Haltestationen bis er aussteigen musste.
«Es ist …», hob die Frau an.
«Ja?», fragte Richard gespannt.
«Also es ist einfach so, dass mich die Ehe für alle eigentlich weniger stört als … ähm … Ihre lackierten Fingernägel», platzte sie schliesslich heraus.
Richard schaute sie aus tellerrunden Augen an. Die Frau war mehr oder weniger für die gleichgeschlechtliche Ehe, aber sie ertrug seine bunten Fingernägel nicht? Etwas rein Äusserliches? Das war ja ein Ding!
«Warum?» Er liess sein Smartphone in seine Tasche gleiten und spreizte seine beiden Hände mit den lackierten Fingernägeln demonstrativ in die Höhe. «Gefallen Ihnen etwa die Farben nicht?»
Die Frau runzelte die Stirn und starrte auf seine Hände: Die Nägel seiner beiden Ringfinger und der beiden kleinen Finger waren rot lackiert, alle anderen waren grün.
«Es gehört sich nicht für einen Mann», sagte die Frau einfach.
«Leben Sie auf einem anderen Planeten?», fragte Richard herausfordernd.
«Nur Frauen tragen Nagellack», doppelte sie nach.
«Das sagen Sie! Warum tragen Sie denn Hosen? Vor sechzig Jahren war das für eine Frau auch noch ungewöhnlich, wenn nicht unschicklich.»
Die Frau erwiderte nichts und blickte demonstrativ aus dem Fenster.
Da erhob Richard sich plötzlich und rief laut durchs Tram:
«Wer hat denn noch lackierte Fingernägel hier?»
Die Leute schauten überrascht auf, ein paar hoben lachend die Hände. Ein Gothic-Mädchen hatte schwarzlackierte, eine ältere Dame hatte rosafarbene, ganz hinten im Tram streckte ein etwa Dreissigjähriger seine blaulackierten in die Höhe, ein paar Meter weiter vorne hielt jemand eine aufgeklappte Zeitschrift hoch, auf der man den Schauspieler Lars Eidinger in einem Filmausschnitt von «Schwesterlein» sah: ebenfalls mit lackierten Fingernägeln.
«Sehen Sie, es ist alles eine Frage der Zeit!», sagte Richard triumphierend. «In wenigen Jahren wird auch Nagellack für Männer absolut banal sein, genauso wie Röcke, Kleider oder Schminke. Die Menschen werden sich daran gewöhnen, einen anderen Menschen nur als Menschen und nicht mehr in erster Linie als Mann oder Frau wahrzunehmen.»
«Was für ein Hirngespinst! Das glauben auch nur Sie!», erwiderte die Frau trocken. Sie hatte offenbar gut zugehört, obwohl sie den Kopf weggedreht hatte.
«Nein, das glaube ich auch!», sagte da eine junge Frau, die von ihrem Sitz aufgestanden war und sich neben die beiden gestellt hatte. «Es ist nur Ihre Generation, die damit nicht zurechtkommt! Aber Ihre Generation ist zum Glück nicht die Zukunft. Wir Jungen von heute haben damit kein Problem!»
Richard schaute sie erfreut und auch verblüfft an. So eine Schützenhilfe hatte er gar nicht erwartet. Er starrte auf ihre ebenfalls bemalten Fingernägel. Sie waren rot und grün lackiert und zwar in genau derselben Anordnung wie seine eigenen! Er strahlte hinter seiner Maske und hoffte, sie sehe es an seinen Augen. Ermutigt durch ihre Präsenz ergänzte er überlaut: «Eigentlich frage ich mich, wie man sich in der katastrophalen aktuellen Covid-Krise, deren Bewältigung absolut nicht absehbar ist und in Anbetracht unseres bevorstehenden Klima-Kollapses und der zusätzlichen globalen Aufrüstung überhaupt noch um so etwas Nichtiges wie Nagellack bei Männern scheren kann!»
Der etwa dreissigjährige Mann mit den blauen Nägeln hinten im Tram klatschte begeistert und die automatisierte weibliche Stimme der Ansage kündigte die Haltestelle «Universität» an. Mit Bedauern blickte Richard auf die junge Frau mit den langen dunklen Haaren, die eine dazu passende schwarze Maske trug und sagte: «Ich muss leider hier aussteigen». Mit der älteren Frau war eine weitere Diskussion wahrscheinlich schwierig, nachdem seine Verbündete sie mit ihrem Statement sozusagen zum alten Eisen geworfen hatte. Die Ältere hatte nur den Kopf geschüttelt, die Augen verdreht und demonstrativ ein Buch hervorgezogen, in das sie sich schnell vertiefte.
«Ich muss auch hier raus», antwortete die Schwarzhaarige und drückte auf den Halteknopf. Schnell stiegen sie beide aus. Den Blick der älteren Trampassagierin fühlten sie im Rücken, aber zu zweit war er leicht zu ertragen.
«Wohin musst du denn?» Richard duzte sie kühn, obwohl er eigentlich nicht so ein Draufgänger war, was seinen Umgang mit dem anderen Geschlecht in seinem Alter betraf.
«Ich muss zur Uni, also in die Bibliothek.»
«Oh, das trifft sich gut, dahin wollte ich auch», behauptete er, denn seit er den neuen Code in den sozialen Medien gesehen hatte, war ihm in der Realität noch nie jemand begegnet, der ihn auch anwendete wie er. Er wollte sich deshalb bei dieser jungen Frau ganz sicher sein. Vielleicht war alles nur ein Zufall?
«Was studierst du denn?», fragte er weiter.
«Informatik!», antwortete sie. «Und du?»
«Soziologie … also eigentlich habe ich meinen Master schon seit letztem Herbst, aber … weil am Ende alles nur noch online lief, hänge ich hier gerne noch etwas rum. Ich habe das Gefühl, ich habe ein Stück Studentenleben verpasst.»
«Ich habe noch einen Moment Zeit. Wollen wir uns beim Take-Away einen Kaffee holen und uns in den Park setzen?», schlug sie vor.
«Gerne!», sagte er erfreut über ihr Vorpreschen, obwohl ihm der Sinn gar nicht nach diesem Getränk stand. Er hasste Kaffee nun schon seit geraumer Zeit. Wenn er Glück hatte, schmeckte er ein bisschen bitter nach Verbranntem, aber sonst hatte er keine Aromen und riechen tat er nach nichts. Er fühlte jeweils nur den heissen Wasserdampf und er mochte die Konsistenz des cremigen hellen Schäumchens.
Sie gelangten in Kürze zum Take-Away-Stand, bestellten je einen Kaffee, setzten sich mit ihren Pappbechern in Covid-Sicherheitsdistanz auf eine freie Bank in der Nähe einer Trauerweide und liessen ihre Masken fallen.
«Ich bin übrigens Sina», sagte sie einfach, strahlte ihn an und streckte ihm ihren Ellenbogen hin. Er freute sich, endlich ihr schönes, sympathisches Lächeln zu sehen, strahlte zurück und berührte zur Begrüssung mit seinem Ellenbogen kurz den ihrigen.
«Oh, wie Sina, die Sängerin? Freut mich! Ich bin, ganz banal, der Richie», sagte er. Dann wagte er einen tragikomischen Wortwitz: «Dreisinnig.»
Sie stutzte einen Moment über den Neologismus, doch dann schien sie ihn sofort zu verstehen und rückte näher zu ihm heran.
«Ich habe es gleich gewusst!», rief sie aus und legte ihre gespreizten Hände einfach auf seine Knie, ohne die Sicherheitsdistanz zu beachten. «Ich trage den Code selber nun schon seit ein paar Wochen, aber du bist der erste, der ihn sofort verstanden hat!»
«Zweimal rot und dreimal grün. Drei von fünf», sagte er und legte seine Hände vor die ihren, sodass ihre bunten Nägel sich berührten.
«Wie lange lebst du denn schon damit?»
«Seit mehr als einem Jahr. Mich hat’s ganz am Anfang erwischt, im März 2020», antwortete sie, und er hörte die Traurigkeit in ihrer Stimme.
«Dann sind wir wirklich Leidensgenossen», sagte er mitfühlend. «Ich habe es auch schon seit Mai 2020.»
«Ach», seufzte sie und wischte sich eine Träne weg, «ich fühle mich je länger je mehr wie unter einer Glasglocke.»
«Umnebelt von diesen schrecklichen Phantomgerüchen», ergänzte er und war versucht, ihr tröstend über das lange Haar zu streichen.
«Parosmie genannt», sagte sie und nickte. «Ich leide ebenso darunter, zusätzlich zur Anosmie und Ageusie.»
«Ja, ich schmecke und rieche praktisch auch nichts und die Lust am Essen und Trinken ist mir total vergangen. Ich isoliere mich schon seit Längerem von den anderen, ich kann eh nicht mitreden beim Essen. Am liebsten kippe ich Proteinshakes hinunter, damit das Kapitel Nahrungsaufnahme schnell erledigt ist.»
«Und wir wissen nicht einmal, ob wir selber duften oder stinken.»
«Dabei sind wir inzwischen bestimmt Millionen, die betroffen sind, global gesehen.»
«Und täglich werden es mehr … aber je mehr Dreisinnige wie wir es gibt, desto eher besteht Hoffnung, dass die Forschung sich um eine wirksame Therapie für unsere Heilung bemüht!»
«Ja, wir dürfen die Hoffnung auf eine Wiederkehr unserer verlorenen Sinne nicht aufgeben. Ich behelfe mir bis dahin mit anderen Genüssen: Videospiele, Technodance im Keller, Binge-Watching auf Netflix, Alkohol, Ecstasy, Sex … »
Sina nickte zustimmend. «Was bleibt uns anderes übrig als zu kompensieren mit Exzessen? Beim Essen und Trinken versuche ich zudem, mich auf Konsistenzen zu konzentrieren, auf Knusprigkeit, Knackigkeit, cremige Beschaffenheit, auf alles Prickelnde auch. Der Kaffee hier könnte allerdings Kuhpisse sein, ich würde den Unterschied nicht merken.»
«Dann lass uns mit der warmen Kuhpisse anstossen auf unsere schicksalshafte Begegnung!», erwiderte er lächelnd und hob seinen Pappbecher. «Ich bin so froh, dass ich dich getroffen habe, Sina. Ohne den neuen Nagellack-Code hätte ich mich nie als Dreisinniger geoutet.»
Sie lächelte, stiess mit ihrem Becher an den seinen, nahm einen Schluck, erhob sich und drückte ihm unvermittelt einen heissen, feuchten Kuss auf die Lippen, der beiden wunderbar schmeckte.
Copyright Anja Siouda
Photo thanks to cottonbro by Pexels
Erschienen in der Literaturpause Nr. 58 «Neues denken – neues Denken»