Da jetzt gerade Kirschernte-Saison ist, und weil ich selber seit 20 Jahren jeweils im Juni eine grosse Kirschenernte im eigenen Garten zu pflücken und zu verarbeiten habe, stelle ich hier kurz einen Ausschnitt aus «Berührte Blüten», dem dritten Teil meiner interkulturellen Trilogie, vor, wo meine Protagonistin Elena in Tunis Kirschen erntet. 1. Auflage Oktober 2018, Seiten 81-87, Copyright Anja Siouda
La Soukra, Juni 2013
So herrlich wie dieser einzige Kirschbaum geblüht hatte, so herrlich trug er auch Früchte! Elena erntete sie fleissig, kletterte sogar auf den Baum hinauf, was ihr ein paar perplexe Blicke ihrer Schwägerinnen eintrug, griff nach den prächtig glänzenden Kirschen und füllte Korb um Korb. Zu Elenas Erstaunen aber wollten Batul, Safia und Fatma nichts davon wissen. Offenbar liessen sie die Kirschen alljährlich an den Ästen verfaulen, weil sie früher manchmal auch mal einem fleischigen Untermieter begegnet waren. Seither ekelte es sie allesamt, denn schliesslich konnte man eine Kirsche nicht so praktisch auseinanderklappen wie etwa eine reife Aprikose oder wie eine Dattel und überprüfen, ob sie eventuell Parasiten beherbergte. In dieser Hinsicht aber war Elena nun, mit bald fünfzig Jahren, völlig unzimperlich, obwohl es sie in jungen Jahren noch geekelt hatte vor Parasiten in Früchten. Vor allem an das besonders widerliche Erlebnis in Tunis 1989 konnte sie sich noch gut erinnern, als aus einer perfekt aussehenden Pflaume, in die sie gebissen hatte, lauter schwarze Käfer geströmt waren und Elena prompt zum Erbrechen gebracht hatten. Damals war sie aber in einer miserablen psychischen Verfassung gewesen, weil sie ein paar Tage vorher von Qais davongelaufen war und obendrauf auch noch erfahren hatte, dass der Putzmann Ahmed plötzlich verschwunden und wahrscheinlich festgenommen worden war. Und diese Armee schwarzglänzender, länglicher Käfer war sowieso nicht zu vergleichen mit einem vereinsamten unschuldigen Würmchen, das im Innern der Kirsche schwelgte und überhaupt keinen Einfluss auf den wunderbaren Geschmack hatte, solange die Kirsche nicht überreif war. Elena guckte einfach nicht hinein und schob sich die zuckersüssen, prallen, saftigen Kirschen in den Mund oder legte sich abends, wenn Qais und sie bei Laune waren, auch mal ein paar besonders knackige zwischen ihre Brüste, in den Bauchnabel und auf ihren Venushügel, wo Qais sie nur mit Lippen und Zunge ernten durfte.
Wenn sie aber tagsüber in der Küche stand und mit dem Verarbeiten der reichen Ernte beschäftigt war, kam ihr manchmal auch der Spruch ihrer Grossmutter in den Sinn, die ihr, als Elena selber ein Kind war, zum Thema Wurmbefall in den Kirschen jeweils gesagt hatte: Man muss beim Essen einfach das Licht löschen! Zudem legte ihre Grossmutter die Kirschen früher in Schnaps ein und wenn man die Gefässe mit dem Eingemachten im Winter aus dem Keller holte, hatte es zuoberst eine Schicht von im Alkohol ersoffenen Würmchen, die sich kinderleicht entfernen liess. Und so genoss Elena ihre herrlichen Kirschen mit geschlossenen Augen. Diejenigen, sie sie nicht sofort ass, liess sie nach der Ernte ein paar Stunden in grossen Schüsseln liegen, die bis zum Rand mit Wasser gefüllt waren. Die kleinen weissen, nach Luft schnappenden Würmer krochen dann nah beim Stielansatz oder auch aus winzigen, von Auge nicht sichtbaren Löchern heraus und sammelten sich an der Oberfläche, wo Elena sie ganz einfach abschöpfen konnte wie früher den Rahm bei der Schafmilch. Meistens schaute Elena darauf, bei diesem Vorgehen wenn möglich alleine in der Küche zu stehen, denn sie hatte – bei aller Pragmatik – schon ein gewisses Verständnis für den Ekel ihrer Schwägerinnen und ihrer Schwiegermutter. Tatsächlich trampelte einmal Batul in die Küche und verliess sie gleich darauf laut zeternd wieder, wobei ihr Elena noch spöttisch lachend nachrief, die Parasiten seien schliesslich auch Geschöpfe Gottes.
Da Elena die Würmer mit dieser banalen Technik gut entfernen konnte, wollte sie die wunderbare Ernte auch auf diverse Arten verwerten. So machte sie daraus, nur für sich selbst natürlich und für Qais, der auch nicht zimperlich war, ganz zur Verwunderung ihrer beiden Schwägerinnen, nicht nur Kirschenkonfitüre, sondern auch Kirschensuppe, «Prägel» genannt im Schweizerdeutschen, Kirschenauflauf, Kirschenwähe nach Deutschschweizer Art und Kompott, nachdem sie Stunden damit verbracht hatte, die Kirschen mithilfe einer Sicherheitsnadel einzeln zu entsteinen, denn einen extra dafür vorgesehenen Kirschenentsteiner gab es im Haus von Qais‘ Eltern natürlich nicht. Da sie die Steine so mühsam und aufwändig aus den Kirschen geklaubt hatte, fand sie es nach der Ernte zu schade, sie einfach wegzuwerfen, kochte sie aus, liess sie in der warmen tunesischen Sonne trocknen und nähte später mit der uralten mechanischen Singer-Nähmaschine mit der goldenen Verzierung auf schwarzem Untergrund, die es im Haushalt von Qais‘ Eltern gab, kleine bunte Kissenbezüge, die sie mit den Kirschsteinen füllte. Batul und Safia schüttelten nur verständnislos den Kopf, denn solche Kissen kannten sie nicht, und überhaupt fanden sie Elenas ganze Verarbeitung der Kirschen reine Zeitverschwendung, aber Elena wusste genau, dass sie sich damit ein kleines Stückchen Schweiz, ja gar eine kleine Ecke vom Brünig nach Tunesien holte. Zwar hatte sie vorher noch nie Kirschsteinsäcke hergestellt, da auf dem Brünig auf 1000 Metern keine Kirschen wuchsen, doch konnte sie sich noch immer an die alten Kirschsteinsäcke aus verwaschenem Stoff erinnern, die sie bei der Übernahme der Alp im Frühling 1994 auf dem alten Kachelofen vorgefunden hatte. Benutzt hatte sie sie dann selber nie, denn sie verbrachte die eiskalten, schweren Winter ja nie auf dem Brünig sondern immer in ihrem Haus mit moderner Zentralheizung in Thun. Hier in Tunis, so hatte ihr Qais aber schon einmal erklärt, sei es im Winter zwischendurch empfindlich kalt, die Häuser verfügten weder über eine Isolation noch über eine Zentralheizung, sondern nur über kleine Elektroöfen, die man bei Bedarf einschaltete. So ein paar Kirschsteinsäcke würden ihr, auf den heissen Ofen gelegt, also im Winter ganz nützlich sein. Und ihre beiden Schwägerinnen würden sie bis dahin vielleicht auch zu schätzen wissen.
Im Internet hatte Elena ausserdem nach weiteren Rezepten und Verwendungszwecken von Kirschen geforscht und war auf die Information gestossen, wonach man aus Kirschenstielen einen Sud oder eine Art Tee zubereiten konnte, der entwässernd und entschlackend wirken und somit Ödemen vorbeugen würde. Ausserdem würden damit auch Harnwegsinfektionen behandelt. Sofort musste Elena an ihre Schwiegermutter mit ihren arg geschwollenen Beinen denken, legte fortan alle Kirschenstiele beiseite, liess sie an der Sonne trocknen und versuchte, ihre Schwiegermutter zum Trinken des eher faden Gebräus zu überzeugen. Diese aber weigerte sich, diesen Tee zu trinken und hielt sich lieber mehrmals täglich an ihren stark gezuckerten Pfefferminztee, obwohl ihr dieser aufgrund ihres Diabetes eigentlich strengstens verboten war.
Elena nahm sich auch vor, der Familie von Qais für den kommenden Frühling die Anschaffung von ein paar Hühnern für den grossen Obstgarten vorzuschlagen, denn Hühner waren dafür bekannt, dass sie die noch verpuppten Larven der Kirschfruchtfliegen, die jeweils im Boden überwinterten, bevor der Zyklus von neuem begann, durch eifriges Scharren im Boden auf wirksame Art verringerten und nebenbei ja auch noch frische Eier legten. Da die Schwiegermutter aber einen Putzfimmel hatte und auch auf die geringsten schlechten Gerüche beinahe allergisch reagierte, war sich Elena bewusst, dass sie vielleicht auch heikel auf Hühner reagieren würde, die ihren Dreck natürlich überall fallen liessen, wenn man sie nicht einsperrte. Sie würde wohl Qais darum bitten müssen, seine Mutter davon zu überzeugen, wobei Elena natürlich auch intensiv hoffte, dass sie und Qais bis zum nächsten Frühjahr sowieso in ihrem eigenen Haus leben und dort dann ohne Rücksicht auf die Familie Hühner anschaffen würden.
Link zum Roman «Berührte Blüten» und zu langer Leseprobe
Foto Kirschen: Thanks to Susanne Jutzeler (Pexels)