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Ein Augenöffner: «Maghreb, Migration und Mittelmeer» von Beat Stauffer

Beat Stauffer präsentiert als Maghreb-Spezialist mit jahrzehntelanger Erfahrung ein sehr umfassendes, hochaktuelles Sachbuch mit 19 Kapiteln, dass das Thema der Migration aus Nordafrika wirklich von allen Seiten beleuchtet. Dass er auch Flüchtlinge in Europa und Migrationswillige vor Ort im Maghreb zu Wort kommen lässt, ist mir besonders sympathisch. Überhaupt lässt sich, bei aller Sachlichkeit und Objektivität, die einem Sachbuch zugrunde liegen soll, doch auch eine gewisse Empathie von Stauffer aus den Zeilen herauslesen. So sagt er Seite 155: «Wie auch bei den Harraga aus dem Maghreb haben mich die persönlichen Begegnungen mit diesen Migranten und ihre oft erschütternden Geschichten berührt.»

Nicht ohne Grund wird auf der Coverrückseite der alt Nationalrat Rudolf Strahm zitiert: «Die Lektüre dieses Buchs ist sowohl für Migrationsskeptiker wie auch für Leser mit Neigung zur Willkommenskultur äusserst erkenntnisreich und gewinnbringend.»

Und dieser Satz stimmt absolut! Wenn man dieses Buch aufmerksam liest, öffnet es einem die Augen für Tatsachen, die man sonst vielleicht liebend gerne ausblendet.

Die extreme Dichte an breitgefächerten, detaillierten Informationen macht es ziemlich schwierig, dieses Sachbuch in groben Zügen vorzustellen und zu kommentieren. Ich empfehle deshalb ein sorgfältiges Eigenstudium der 19 Kapitel!

Stauffer betont, dass es in seinem Buch, wie ja schon der Titel sagt, um die Migration aus und über die Maghreb-Staaten (Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen und Mauretanien) geht. Es geht nicht um Kriegsflüchtlinge aus dem nahen Orient. Tatsächlich ist der weitaus grösste Teil der Flüchtlinge aus dem Maghreb auf der Suche nach einem besseren Leben in Europa, viele stranden auch aus Ländern südlich der Sahara zuerst im Maghreb. Politisch Verfolgte gibt es ja leider auch aus diesen Regionen, Bürgerkriege und gewalttätige Konflikte sind in vielen Sahelstaaten an der Tagesordnung, aber solche Flüchtlinge stellen nicht die Mehrheit dar und sind nicht Gegenstand von Stauffers Buch.

Bei der Lektüre wird einem bewusst, dass bei allem Verständnis für Armutsflüchtlinge, die genau wie wir alle auf der Suche nach dem Glück sind und das Beste aus ihrem Leben machen wollen, die Realität nicht einfach aussen vor gelassen werden darf.

Europa kann nicht alle aufnehmen

Europa kann nicht alle migrationswilligen Personen aufnehmen und es müssen Mittel und Wege gefunden werden, um den Menschen vor Ort, in ihrem Heimatland, eine Perspektive zu geben. Es braucht dringend Investitionen und effiziente Partnerschaften mit Europa in Nordafrika.

Stauffer zeigt überaus anschaulich, wie gross die Hoffnungslosigkeit und der Emigrationswille der nordafrikanischen jungen Menschen sind. Und wie bitter nötig die Hilfe für Ausbildungen von Europa ist. Natürlich gibt es auch gut ausgebildete Personen, die nach Europa flüchten wollen, aber die grosse Mehrheit sind Menschen, die in keinem der Maghreb-Länder eine Perspektive haben, oftmals schon seit Jahren in der Arbeitslosigkeit vegetieren und die in ihrer enormen Frustration ihr Leben aufs Spiel setzen, wenn es auch nur ein Fünkchen Hoffnung auf Europa gibt.

Europäer wanderten in die Kolonien Nordafrikas aus

Stauffer erinnert auch daran, dass im 19. und 20. Jahrhundert Hunderttausende von Europäern in die Kolonien Nordafrikas auswanderten, vor allem in die «Algérie française» (S.22), dass später auch viele nordafrikanische Gastarbeiter nach Europa geholt wurden, dass aber diese legale Arbeitsmigration ab 1990 mit dem Abschluss des zweiten Schengener Abkommens ein jähes Ende fand. «Auf diese Weise wurde der Maghreb auf brutale Weise von Europa abgetrennt. Damit begann die Hochkonjunktur der irregulären Migration […]» (S. 24)

Heutzutage stellen die fünf Maghrebstaaten geradezu einen «doppelten Schutzwall» (S. 11) dar. «Sie sichern ihre südlichen Grenzen […]. Vor allem aber sichern sie mithilfe ihrer Küstenwache die Mittelmeer- und Atlantikküste.» (S. 11)

Der aktuelle Wohlstand Europas sei diesem «Limes» (S. 11) zu verdanken, denn Hundertausende von Maghrebinern würden ihre Heimat sofort verlassen, wenn eine «legale und gefahrlose Ausreise möglich wäre». (S.11)

Von der Stabilität im Maghreb hängt auch Europas Schicksal ab

Europa hat ein grosses Interesse daran, den Maghreb-Staaten in mancher Hinsicht unter die Arme zu greifen, mit Investitionen und echten «Migrationspartnerschaften» (S. 17) in Form von Ausbildungsmöglichkeiten vor Ort, Studentenaustausch usw. Denn von der Stabilität im Maghreb hängt auch Europas Schicksal ab.

Stauffer erwähnt diese konkrete Zusammenarbeit von Europa und dem Maghreb mehrmals in seinem Sachbuch. Man könnte ihm diese Wiederholungen ankreiden, aber wahrscheinlich will er damit betonen, wie absolut dringlich diese Zusammenarbeit ist. Es sei denn, er habe in seinem wirklich umfangreichen Werk hie und da etwas die Übersicht verloren.

Beispiel Tunesien

Am Beispiel Tunesiens beschreibt Stauffer die Enttäuschung und Verbitterung der Jugend nach der Revolution besonders klar. Abgesehen von der neuen Meinungsfreiheit hat sich für die Jugend nichts zum Besseren gewendet. Der Migrationsdruck ist enorm. Das tunesische Hinterland, wo der Tourismus nicht boomt, ist völlig abgehängt. Desillusion, Resignation, Hass und Wut prägen die Jungen, die oftmals nur noch im Dschihad – konkret ein von den Golfstaaten finanziertes Söldnerwesen – oder im Terrorismus eine Alternative sahen bzw. sehen … Soziale Bedeutungslosigkeit sei schlimmer als die eigentliche Armut (vgl. dazu S. 56). Manche werden zu Schmugglern oder auch Schleppergehilfen.

Auch die Situation in Marokko und Algerien bietet der Mehrheit der jungen Menschen keine Perspektive. Arbeitslosigkeit, Korruption, Repression und Bürokratie gehören zum Alltag. Libyen wurde erst seit dem Sturz Gaddhafis zum Auswanderungsland, in Mauretanien war der Auswanderungsdruck hingegen schon immer geringer.

Sehr anschaulich beschreibt Stauffer auch «drei Schauplätze der irregulären Emigration»: Tanger in Marokko, Zarzis in Tunesien und Zuwara in Libyen.

Zahlreiche Kontaktpersonen und Informanten

Auch das Schleppergeschäft, das teilweise sogar unverfroren Werbung in den sozialen Medien schaltet, nimmt Stauffer unter die Lupe. Seine zahlreichen Kontaktpersonen und Informanten sind über das ganze Sachbuch hin beeindruckend. Stauffer vermittelt der Leserschaft enorm viele Informationen aus erster Hand! Sein Werk kommt mir so anschaulich vor wie ein Dokumentarfilm.

Egoistische Politik …

Im zwölften Kapitel «Ein neuer Limes: Der Maghreb als Schutzwall Europas?» wirft Stauffer einen Blick auf den historischen Limes der Römer in Nordafrika. Später nimmt der Autor klar Stellung: Europa muss sich vor der starken Zuwanderung schützen, auch mit der Auslagerung des Grenzmanagements an Maghrebstaaten. «Man mag eine solche Politik als egoistisch […] bezeichnen. Das ist sie in einem gewissen Masse auch. Doch die Verteidigung der ureigensten Interessen Europas ist, sofern sie gewisse Regeln einhält, durchaus legitim. Vor allem aber gib es dazu keine Alternative, ausser man misst dem Fortbestand Europas in der heutigen Form keine Bedeutung bei.» (S. 215)

Grosszügige Migrationspartnerschaften

Für die Mithilfe bei der Sicherung der Grenzen müssen den Maghreb- und Sahelstaaten aber als Gegenleistung grosszügige, effiziente Migrationspartnerschaften garantiert werden. Auch dies liegt im Interesse Europas selber. Sollten solche Grenzsicherungen scheitern, drohten durch die extreme Zuwanderung die Vernichtung der europäischen Sozialversicherungssysteme und massive Rechtsrutsche, wie man sie bereits jetzt beobachten kann.

«Kurzfristig gibt es keine Alternative zu dieser Abschreckungspolitik. Doch Europa steht in der Pflicht, diese so human wie möglich zu gestalten.» (S. 216)

Auch dem schwierigen Thema der Rückführungen widmet Stauffer ein Kapitel. Trotz finanziellen Anreizen kehren nur die wenigsten abgewiesenen Flüchtlinge freiwillig zurück und abgesehen von Tunesien weigern sich die Maghrebstaaten, ihre Landsleute zurückzunehmen. Rückführungen mit Sonderflügen sind problematisch und in vielen Staaten nicht möglich. Zwangsrückführungen sind zudem demütigend für die Betroffenen, emotional sehr belastend für alle Beteiligten und finanziell extrem aufwändig für die Behörden.

Wie steht es mit der Idee von Aufnahmezentren in Nordafrika? Auch über diese heikle Frage debattiert Stauffer ausführlich, führt Argumente dafür und dagegen auf und resümiert Stellungnahmen aus diversen Medien und politischen Lagern dazu. Unter der Aufsicht des UNHCR geführte Lager, «in denen Migranten und Flüchtlinge Zugang zu einer Unterkunft und medizinischer Betreuung hätten, wären für alle Kategorien von Flüchtlingen hilfreich» (S. 276), schreibt Stauffer, denn schliesslich geht es darum, dass die Menschen «vor ihrer gefährlichen Reise über das Mittelmeer Asylgesuche stellen können.» Das Problem aber ist, dass die vier Maghrebstaaten mit Zugang zum Mittelmeer derartige Zentren kategorisch ablehnen.

Vorschläge, die die irreguläre Migration stoppen bzw. eindämmen sollen

Im vorletzten Kapitel resümiert Stauffer verschiedene Vorschläge, die die irreguläre Migration stoppen bzw. eindämmen und das Migrationsmanagement verbessern sollen.

– Es brauche «eine klare Unterscheidung der verschiedenen Kategorien von Migranten und Flüchtlingen. Denn Asyl für politisch Verfolgte gemäss der Genfer Konvention soll weiterhin aufrechterhalten werden, und auch Kriegsflüchtlingen soll unbedingt weiterhin geholfen werden.» (Seite 287) Das heute gültige Flüchtlingsrecht von 1951 sei nicht mehr zeitgemäss.

– Nur mit dieser «Triage» gäbe es «ein besseres Migrationsmanagement». (S.288)

– Das Botschaftsasyl in den Herkunftsländern müsse wiedereingeführt werden und Europa solle ausserdem «humanitäre Korridore» eröffnen (S. 290), damit gefährdete Menschen direkt (nach Europa) ausgeflogen werden können.

– Stauffer vermutet, dass «Triage»-Zentren in Zukunft in Südeuropa eingerichtet werden.

– Substanzielle Migrationspartnerschaften sollen aufgebaut werden.

– Abgelehnte Asylbewerber sollen rasch zurückgeführt werden.

– Europa müsse den Maghrebstaaten wirtschaftlich unter die Arme greifen. «Denn mit der Stabilität des Maghreb steht letztlich die Sicherheit Europas auf dem Spiel.» (S. 301)

– Das Bildungswesen im Maghreb müsse reformiert werden und gerade die deutschsprachigen Länder könnten mit ihrer Erfahrung in der Berufsbildung einen grossen Beitrag dazu leisten.

Passendes Cover

Das Cover des Buchs ist sehr passend. Bezeichnenderweise sah ich lange Zeit nur das überladene Boot mit den Flüchtlingen links, alles junge Männer, sowie die Rettungscrew oder Polizei rechts. Die einzige Wasserflasche, die «über der südlichen Sahara Algeriens» zu den ausgestreckten Händen der Flüchtlinge geworfen wird, bemerkte ich erst, als ich mit der Lektüre schon weit fortgeschritten war. Diese winzige Wasserflasche angesichts der immensen Anzahl von Flüchtlingen zeigt, für wie verschwindend wenige Europa am Ende wirklich zum «erträumten Eldorado» werden kann. Die fliegende Flasche ist wirklich nicht mehr als der Tropfen auf den heissen Stein …

Auf Beat Stauffer kam ich übrigens vor ein paar Jahren über einen Umweg über Nordafrika. Abdelkader Drioua, Germanistik-Dozent, Übersetzer und Journalist aus Oran in Algerien, der von Beat Stauffer für eine Reportage interviewt worden war und der sich für meine interkulturelle Trilogie begeistert, wies mich auf ihn hin. 

Projekt einer Übersetzung geplant

Über Facebook habe ich erfahren, dass in Tunesien bereits über das Projekt einer Übersetzung ins Französische von Beat Stauffers Buch gesprochen wird. Eine sehr gute Idee, selbst wenn bestimmt nicht die ungebildeten ausreisewilligen jungen Migranten dieses Buch lesen würden. Vielleicht würde es ja auch dem einen oder anderen maghrebinischen Funktionär oder Politiker die Augen öffnen. Auch könnten Auszüge von Berichten desillusionierter Rückkehrer aus Europa in Schulen zwecks Prävention gelesen werden …

Als Übersetzerin begrüsse ich es zudem, wenn gute Bücher in andere Sprachen übersetzt und somit einem grösseren Lesepublikum zugänglich gemacht werden.


Im zweiten Teil meiner interkulturellen Trilogie, im Roman «Ein arabischer Sommer», erstmals erschienen 2013, Neuauflage 2018, ist einer der Protagonisten ein junger algerischer, gut ausgebildeter Asylsuchender, der in einem Sachabgabezentrum auf dem Brünig zusammen mit anderen abgewiesenen jungen Männern aus verschiedenen Ländern auf seine Rückführung nach Algerien wartet. Weil er den wahren Grund für seine Flucht aus Algerien – er war wegen seiner Homosexualität inhaftiert gewesen und nur über Korruption aus dem Gefängnis entkommen – den Schweizer Behörden verschwiegen hat, wurde sein Gesuch abgewiesen. Am Ende des Romans reist er nach Nordafrika zurück, nach Tunis, wo er vom tunesisch-schweizerischen Ehepaar Qais und Elena, mit denen er bereits in der Schweiz Freundschaft geschlossen hat, als Webmaster für den Aufbau einer Online-Sprachschule angestellt wird.

Ich habe diesen Roman zwar in mancher Hinsicht realistisch geschrieben, aber es ist ganz klar, dass die Realität in Bezug auf die Asylsuchenden aus dem Maghreb nur selten so aussieht, wie von mir imaginiert. Der ideale Schluss, bei dem ein abgewiesener Flüchtling tatsächlich aus eigenen Stücken zurück in den Maghreb reist und dort dank seinen aus Europa kommenden Freunden auch sofort eine gute Anstellung findet (wenn auch inoffiziell, da er ja auch in Tunis ein Papierloser ist) und sogar ein kleines tolerantes, soziales Netz ausserhalb seiner Heimat hat, ist idealistisches Wunschdenken von mir.

Mein persönliches Hauptanliegen in diesem Buch ist der Umgang mit Homosexuellen in der muslimischen Welt und das Plädoyer für mehr Verständnis der Muslime allgemein gegenüber LGBT-Menschen.

5 based on 1 reviews

2 Comments

  1. Corinne sagt:

    Ich bin dir für dein «idealistisches Wunschdenken» äusserst dankbar und schliesse mich dem freudig an.
    Herzlich.
    Corinne

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