… und eine erschütternde Lebensgeschichte: Evelina Jecker Lambrevas autobiographischer Roman „Vaters Land“
«Die Zeit, in der wir gelebt haben, können Jugendliche von heute und vor allem die, die in Westeuropa aufgewachsen sind, nicht mehr begreifen«, erklärt die Figur Katja nach den ersten hundert Seiten Danail, dem jungen Sohn der Ich-Erzählerin Inna in diesem autobiographischen Roman. Wie Recht die Autorin hat, die Katja diese Worte in den Mund legt!
Wie sollten wir es denn können? Menschen wie ich, die sogar fast der gleichen Generation wie die Autorin angehören, die aber im liberalen, demokratischen Westen, in der Schweiz, aufgewachsen sind, mit aller Freiheit der Welt, mit Familienrat, FKK und Are Waerlands grosser Lebensharmonie! Mit Meinungs- und Glaubensfreiheit, mit Chancengleichheit, mit freier Berufswahl, mit der völlig selbstverständlichen Überzeugung, in einem Rechtsstaat zu leben und ganz ohne Vorgaben hinsichtlich politischer Anschauungen!
Weil der Kontrast zwischen Evelina Jecker Lambrevas fiktionaler Biographie, ihrem Aufwachsen im kommunistischen Bulgarien und ihrem erstaunlichen, von Hassliebe geprägten Verhältnis zum eigenen Vater, und meinem eigenen Leben so enorm ist, hat mich dieses Buch fasziniert. Was für eine ungewöhnlich starke aber auch erschütternde Biographie!
Wahres und Erlebtes vermischt sich dabei mit Erdachtem, wobei man als Leserin die Ebenen der Fiktion und der Autobiographie natürlich nicht auseinanderhalten kann. Was sagt die Ich-Erzählerin Inna? Was die Autorin Evelina Jecker Lambreva? Wahrscheinlich kann sogar die Autorin selber es nicht mehr, denn in der Erinnerung fliesst so manches zusammen, womöglich auch einmal Erträumtes, Erdachtes oder von älteren Familienangehörigen Erzähltes. Auch Dialoge aus der Vergangenheit lassen sich in der Gegenwart nicht eins zu eins rekonstruieren, aber einzelne Sätze können sich ganz bestimmt wortwörtlich eingeprägt haben. Und daraus lassen sich ganze Szenen imaginieren.
Wenn man dieses wirklich sehr empfehlenswerte Buch gelesen hat, hat man eine Ahnung, wie unglaublich schwer, mühselig und vor allem ungerecht das Leben in einem kommunistischen Staat wie Bulgarien sein konnte, der seine Bürger von Kindsbeinen an zum Bespitzeln und Denunzieren aufrief oder sie gar dazu zwang.
Inna hatte einen Vater, dessen Grosseltern 1912 in Thrakien in der Nähe von Adrianopel niedergemetzelt wurden, während seine Eltern und älteren Geschwister flüchten konnten. Innas Oma Jana hat ihr dieses Massaker und diese Flucht, dieses einprägsame Stück Familiengeschichte, immer und immer wieder erzählt! Die Ich-Erzählerin schildert sie der Leserschaft ihrerseits im Präsens und auf sehr anschauliche Weise.
Die fünf Geschwister starben allesamt auf der Flucht, und die Eltern von Innas Vater mussten sich in Plovdiv, wo sie in Sicherheit waren, als Flüchtlinge eine neue Familie und eine neue Existenz aufbauen. Innas Vater, der als letztes Kind nach der Flucht geboren wurde, war ungeplant und unerwünscht. Ein kinderloser Gutsherr, der ihn eigentlich adoptieren wollte, begünstigte ihn und schrieb ihn in der deutschen Schule ein. Diese Bevorzugung schaffte Eifersucht unter den anderen Flüchtlingen. Als wenig später die Kommunisten an die Macht kamen, wurde Innas Vater mit 17 Jahren völlig grundlos angeschwärzt, eingesperrt und einen Monat lang gefoltert. Er entkam dem Tod nur knapp, worauf er einen abgrundtiefen Hass auf die eigenen Landsleute entwickelte, sich später als Medizinstudent zudem weigerte, als Spion zu arbeiten, als man ihn dazu zwingen wollte und somit zum Volksfeind erklärt wurde. Seinen Hass auf die aus seiner Perspektive primitiven und verlogenen Bulgaren aber wollte er vor allem der eigenen Tochter partout eintrichtern, was ihm nicht gelang, obwohl er sie zu diesem Zweck in seiner heissgeliebten deutschen Sprache und Kultur grosszog, worauf die anderen bulgarischen Kinder sie von klein auf als „Hitler“ und „Faschistin“ verschrien, da jedes Interesse am Westen mit Verrat am kommunistischen Ideal gleichgesetzt wurde. Überhaupt wurde damals in Bulgarien „Faschist“ zum Schimpfwort für jeden, der einem nicht passte.
Inna, deren Name nicht nur an eine Abkürzung oder Verkleinerung von Evelina, denken lässt, sondern auch an die kleine «Eva», die von ihren eigenen Eltern mit drei Jahren auf traumatische Weise aus dem Paradies Neblisch der Grosseltern mütterlicherseits – die Beschreibung dieses Paradieses gehört übrigens im Buch zu den besonders schönen Stellen –, gerissen wurde, wuchs später als Kind bei ihren Eltern, beide sehr beschäftigte Ärzte, einsam und ausgesprochen streng erzogen auf. Prügel vom Vater waren dabei bis ins Erwachsenenalter keine Seltenheit, Lob war inexistent und das Thema Sexualität war tabu. Die Mutter nahm sie manchmal vor der Gewalt des Vaters in Schutz, aber nicht immer.
Mit ihr gab es für Inna hie und da schöne, aber seltene Momente der Vertrautheit – da die Mutter als Gynäkologin für 20 000 Frauen verantwortlich war –, an die Inna sich gerne zurückerinnert. Z.B. steckte sich die Mutter beim Zubereiten der Buttercreme für den Sonntagskuchen das knisternde leere, aber noch immer duftende Vanillezuckertütchen jeweils ins Dekolleté, woran die kleine Inna, die auf dem Schoss ihrer Mutter sitzen durfte, bis der Kuchen im Ofen gebacken war, mit Freude zurückdenkt. Eine bezaubernde Erinnerung, die ich als Leserin auch nicht mehr vergessen werde!
Mit dem tyrannischen Vater hingegen gab es vertraute Momente nur, wenn er ihr über Märchen, Literatur und Musik die deutsche Sprache und Kultur näherbrachte. Das war für Inna eine Welt voller Geborgenheit und Wehmut. Auch das Pilzesuchen im Wald oder das Baden an der Schwarzmeerküste, alles spielte sich über die deutsche Sprache ab. An Weihnachten holte der Vater gar sein Akkordeon hervor und zusammen mit der Mutter, die Geige spielte, sangen sie deutsche Weihnachtslieder. Und als der Vater die ersehnte russische Limousine Wolga kaufen durfte, wofür die Familie zehn Jahre auf der Warteliste gestanden hatte, machte er zusammen mit Inna ausgelassen Ausflüge quer durch Bulgarien, sogar bis zum verbotenen Eisernen Vorhang.
Erst auf dem Elite-Gymnasium, das sie nur dank ihrer Höchstnoten bei der Aufnahmeprüfung besuchen durfte, da ihr Vater als Volksfeind abgestempelt war – manche andere kamen nämlich einfach über Beziehungen dorthin –, erlangte Inna eine gewisse Freiheit, fand Freunde, lebte ihre Jugendzeit aus und entdeckte das eigenständige Denken, womit sie sich teilweise von den einengenden, tyrannischen und mit enormen Vorurteilen behafteten Ideen des Vaters befreite. Am Gymnasium hatte sie endlich „ein Leben“ und dort lernte sie Darin kennen, ihren späteren bulgarischen Ehemann, der Vater von Danail.
Als der Vater von Inna bei einem Besuch zuhause von der Beziehung mit Darin und von ihrem Interesse an Verhütungsmitteln erfuhr, beschimpfte er sie als «Nutte», schlug sie und warf sie aus dem Haus. Die Mutter verteidigte sie nicht, erklärte ihr aber später, dass sie ihre Tochter nach den Richtlinien der kommunistischen Partei zur Keuschheit erziehen müsse! Die Verhütungsmittel besorgte ihr die Mutter dann trotzdem.
An einer anderen Stelle zeichnet die Ich-Erzählerin ein bulgarisches Frauenbild, das sich ihrer Meinung nach über Generationen hin kaum verändert hat, und das mich persönlich an die arabisch-muslimische Welt erinnert, vor allem wegen der Verehrung der Mutter durch die Söhne: «Wenn Bulgarinnen einen Mann lieben, dann lieben sie ihn bis zur Selbstaufgabe. Auch wenn er grausam ist, wenn er sie beleidigt, entwürdigt, sogar schlägt – sie halten zu ihm und lassen alles mit sich machen. Ist das bedingungslose Liebe oder Masochismus? Der bulgarische Mann hingegen liebt nur seine Mutter wirklich.» (S.178)
Als Inna zu Beginn ihres Medizinstudiums schwanger wurde, verlangte ihr Vater, dass ihre Mutter ihr das Kind abtreibe! Inna aber heiratete Darin gegen den Willen ihres Vaters und der Enkel Danail wurde geboren, den Innas Vater zum grossen Erstaunen von Inna von Anfang an mit einer von ihr nie gekannten Sanftmut behandelte. Rührung, Schmerz und Wut überkamen Inna in jenem Moment wegen dem unglaublichen Gefühlswandel ihres Vaters gegenüber seinem Enkel.
Darins Mutter hütete Danail drei Jahre lang, bis Inna ihr Medizinstudium abgeschlossen hatte. Danach übernahm der frisch pensionierte Vater von Inna die Erziehung seines Enkels in der deutschen Sprache und Kultur. Mit vier Jahren sprach Danail genauso gut Deutsch wie Inna im gleichen Alter!
Als Leserin bin ich verblüfft, wie sich die Dinge wiederholen. Der Grossvater geht mit dem Enkel genau gleich um wie mit der Tochter, aber mit dem Enkel hat er viel mehr Geduld und gewalttätig wird er ihm gegenüber nie.
Eigentlich ähnelt der Roman vom Aufbau her ein bisschen einem Roadmovie, da Vaters Land die geografischen Etappen der Rückkehr der Protagonistin in ihre Heimat Bulgarien beschreibt, nachdem ihr autoritärer und brutaler Vater unerwartet an einem Herzinfarkt gestorben ist. Auf ihrer gedanklichen Reise von der Gegenwart in die Vergangenheit und auf ihrer realen Reise von der Schweiz zurück nach Bulgarien begleiten sie Theo, ihr zweiter Ehemann, ein Schweizer, und ihr erwachsener Sohn Danail, sowie ein befreundetes bulgarisches Ehepaar, Katja und Bojan. Dabei hält sich die Ich-Erzählerin nicht an eine chronologische Reihenfolge, sondern beginnt gleich mit dem Anblick des toten Vaters, den sie besonders eindrücklich schildert.
«Da liegt also, was von dir geblieben ist, Vater: verstummt, vermummt, gebändigt in einer langen schmalen Holzkiste. Die Augen trüb, die Lider halb geöffnet. Deine Lippen fast verschwunden, eingesaugt vom Tod. Und deine Hände, diese grossen Hände mit den kräftigen Fingern, die einst so fest zuschlagen konnten? Sie ruhen jetzt, geschrumpft, brav über dem Bauch gekreuzt wie die Hände eines Heiligen.» (S. 7)
Die Szene ist sehr anschaulich beschrieben, fast kommt einem ein Anker-Bild in den Sinn, wären da nicht die verstörenden Gedanken der Ich-Erzählerin.
Auf den toten Vater und die bulgarische Beerdigungszeremonie kommt die Ich-Erzählerin im Laufe des Romans punktuell immer wieder zurück. Es ist ja auch der Tod des Vaters, der sie so intensiv und selbstanalytisch über ihn und ihre Beziehung zu ihm reflektieren lässt. So schafft sie es, einerseits Erklärungen für sein Verhalten ihr gegenüber zu finden, aber andrerseits realisiert sie auch, dass er mit den Dämonen seiner Vergangenheit nie fertig geworden ist.
Er hat das Trauma der Folterung nie überwunden und den in seinem Innern lodernde Hass auf seine kommunistischen Folterknechte hat er auf ganz Bulgarien und alle seine Einwohner übertragen, vor allem auf Inna, die Bulgarien ebenso hassen sollte wie er. Inna aber liebte Bulgarien, gerade weil es ihr der Vater verboten hatte und sie liebte auch ihren Vater, obwohl er es ihr sein Leben lang sehr schwer machte, ihn zu lieben. Zu Lebzeiten hatte er sie immer wieder abgewiesen, sie fand nie einen Weg zu ihm. Und doch erfüllte sie sogar seinen eigenen Lebenstraum vom Emigrieren in den deutschen Sprachraum und vom Karrieremachen als Arzt, den er auf sie übertragen hatte. Sie ist nicht nur Ärztin geworden wie er, sondern sie ist tatsächlich ausgewandert, wobei sie zuerst Praktika machte, die ihr umso einfacher möglich waren, als sie die deutsche Sprache dank dem jahrelangen unerbittlichen Eintrichtern des Vaters perfekt beherrschte. Sie emigrierte in die Schweiz, weil sie sich in Bulgarien nur in Psychiatrie, nicht aber in Psychotherapie weiterbilden lassen konnte. Nach der Wende dachte Inna zudem, nun gäbe es kein Zurück zum Kommunismus mehr und alles würde sich zum Guten wenden, doch fast jede bulgarische Provinz blieb eine kommunistische Bastion! Eine berufliche Zukunft gab es für sie nur in der Schweiz. In Bulgarien musste man dafür weiterhin Beziehungen oder Geld zum Bestechen haben.
Auch der Alltag in Bulgarien blieb hart, doch fänden die Bulgaren als wahre Überlebenskünstler immer einen Weg, die Misere zu überwinden, erklärt die Ich-Erzählerin. Vor allem im gemütlichen Beisammensein, beim Essen, Trinken und Tanzen. Die Bulgaren hätten keine Zeit, sich die Sinnfrage zu stellen, da sie täglich mit dem Alltagskampf beschäftigt seien.
Nach der Wende ermutigte Inna ihren Vater, in einer bulgarischen Tageszeitung über die Folter der Staatssicherheit zu schreiben. Der Vater übergab den Artikel der Zeitung und fuhr mit Enkel Danail über Weihnachten zu einer befreundeten Familie in Deutschland. Während seiner Abwesenheit wurde Inna vom Bürgermeister ihres Wohnorts gedroht, weil sich ihr Vater mit dem Artikel zu weit hinausgewagt habe. Vor allem dem Enkel könnte ja durchaus etwas zustossen! Inna bekam Angst um ihren Sohn und riet dem Vater, in Deutschland ein Asylgesuch für Danail und ihn zu stellen und so sah sie ihren Sohn, der in Deutschland eingeschult wurde, anderthalb Jahre lang nicht, bis der am Ende negative Asylentscheid fiel. Der Vater von Inna kehrte mit seinem Enkel schwer enttäuscht von Deutschland nach Bulgarien zurück.
Heute hat sich die Ich-Erzählerin mit ihrem Vater versöhnt, wenn auch posthum. «Und doch ist es nicht einfach zu verzeihen», schreibt sie. Ihre Liebe zu ihrer Heimat Bulgarien muss sie nun nicht mehr verheimlichen und ihren Vater wird sie an Weihnachten immer vermissen, wie sie im letzten Satz des autobiographischen Romans sagt.
Und hätte sich ihr Vater je vorgestellt, dass sie eines Tages in seiner und ihrer geliebten deutschen Sprache über sein verhasstes und ihr geliebtes Vaterland schreiben würde? Dass sie uns Leserinnen und Lesern somit das unbekannte, facettenreiche Bulgarien in unserer Mutter- und in ihrer Vatersprache unvergesslich nahebringen würde?