Dieses 2016 bei Zytglogge erschienene Buch der Autorin Jasmin El Sonbati, Tochter eines Ägypters und einer Österreicherin, auf dessen Cover eine junge Muslimin mit Kopftuch in Hinblick auf den Grundton El Sonbatis geradezu programmatisch den «Traité sur la Tolérance» von Voltaire liest, wurde mir per Zufall vor ein paar Monaten zum Geburtstag geschenkt, aber ich hätte es mir auf jeden Fall selber gekauft und ich empfehle die Lektüre dieses Buches allen, die sich für das Thema Islam in der Schweiz interessieren.
El Sonbati betont, dass «dieses Buch kein Sachbuch über den Islam in der Schweiz ist. Im Mittelpunkt stehen muslimische Menschen aus der Mitte der Schweizer Gesellschaft. Mich interessieren ihre individuellen Lebensstile, Glaubensprofile, Auffassungen, aktuellen Lebenssituationen» (Seite 17).
Und genau mit dieser Sichtweise trifft sie meiner Meinung nach den Nagel auf den Kopf, weil es den «Islam» oder «die Muslime» weder in der Schweiz noch sonst irgendwo auf der Welt als Einheit gibt oder je gegeben hat.
Der einzige gemeinsame Nenner, dies betont auch El Sonbati, aber das war mir schon vorher klar, sind die fünf Säulen des Islam. Das Glaubensbekenntnis, die fünf Gebete am Tag, der Fastenmonat Ramadan, das Almosengeben und die Wallfahrt nach Mekka.
Natürlich aber werden auch diese religiösen Pflichten längst nicht von allen Muslimen eingehalten oder dann nur teilweise, je nach eigenem Gutdünken. So gibt’s «Feiertagmuslime» wie auch «Moscheemeider», gemäss Statistiken stellen diese in der Schweiz sogar die Hauptgruppe dar. Muslim ist also nicht gleich Muslim. Manche sehen sich auch als reine «Kulturmuslime», «die sich von der Religion des Islam entfernt haben». (S. 13)
El Sonbatis Buch ist wirklich ein sehr persönliches Buch mit extrem vielen individuellen Beispielen – auch Anekdoten aus der eigenen Familiengeschichte finden darin Platz – und Erzählungen über Begegnungen und meistens fruchtbaren aber (Schweizer Gesprächskultur sei Dank!) stets respektvollen Diskussionen mit Muslimen aller Art. Z.B. mit einem homosexuellen Muslim oder auch mit dem konvertierten Salafisten Qaasim Illi, dem Mediensprecher des Islamischen Zentralrats, der in der Schweiz den Anspruch erhebt, das Sprachrohr der Muslime zu sein, obwohl der IZRS im Grunde nur eine mikroskopisch kleine Anzahl Gläubiger wahabitischer Ausrichtung repräsentiert.
Die meisten aktuellen Themen, also diejenigen, die in jüngster Zeit mit dem Islam in Verbindung gebracht werden und Schlagzeilen gemacht haben, spricht El Sonbati, die übrigens auch erfahrene Gymnasiallehrerin ist, in ihrem Buch an: Kopftuch (Hijab oder Niqab), Handschlagdebatte, Schwimmunterricht für muslimische Mädchen, Mädchenbeschneidung, aber auch Charlie Hebdo, die Ereignisse in Köln, Koranverteilung, Dschihad, Radikalisierung, Scharia, die kostenlose Schulung von Schweizer Konvertiten in Saudi Arabien, der Fall des saudischen Bloggers Raif Badawi oder die Sharia Councils, eine Paralleljustiz, die die Schweizer Politologin Elham Manea in Grossbritannien untersuchte.
Dabei vertritt Sonbati eine kritische Haltung und betont, wie wichtig eine zeitgemässe Interpretation des Korans und humanistische Werte sind. Dazu gehört auch die «Streitbarkeit des Göttlichen», eine Entwicklung, die in der islamischen Welt nicht stattgefunden habe (vgl. S. 243). «Heute hat der Islam in weiten Teilen der islamischen Welt ein intolerantes Gesicht. Die politische und wirtschaftliche Frustration der Menschen […] und der Einfluss der reichen Golfstaaten mit ihrer rigiden Auslegung des Korans sind einige Gründe dafür.» (S. 243)
Selbstverständlich aber gab und gibt es auch in der islamischen Welt Reformer: El Sonbati zitiert diverse Intellektuelle wie den Ägypter Muhammad Abduh (Erneuerung des islamischen Rechts), dessen Landsmann Ali Abd ar-Raziq (Trennung von Staat und Religion), den Algerier Mohammed Arkoun und den Ägypter Nasr Hamid Abu Zeid (beide forderten eine Neuinterpretation des Korans), den Tunesier Abdelwahab Meddeb und den Syrer Sadiq Jalal al Azm (beide forderten die Übernahme der Prinzipien der Aufklärung), den Tunesier Mohammed Talbi (zeitgemässe Lesart des Korans), den Türken Ömer Özsoy (modernes Islamverständnis anstelle des Missionsgedankens) und den Iraner Abdolkarim Sorusch (Wandelbarkeit der religiösen Erkenntnis).
El Sonbati betont, dass aber «gerade Muslime in Europa bzw. in der Schweiz […] dazu prädestiniert [wären], eine Reform des Islam in Gang zu bringen […]» weil sie «dank der bürgerlichen Rechte wie Rede- und Meinungsfreiheit […] in Europa sowohl die Möglichkeit [haben], ihren Glauben zu praktizieren, als auch, ihn zu kritisieren oder sich ganz von ihm abzuwenden. Sie haben Optionen, die in islamischen Ländern, zumindest öffentlich, undenkbar wären». (S.169)
Zu Recht steht Sonbati der Koranverteilung (Aktion «Lies!») skeptisch gegenüber, obwohl das Verteilen der heiligen Schrift an sich ein edles Vorhaben sei. Erstens bleibt es fraglich, wer mit welchen Absichten dahintersteht und zweitens ist der Koran «ein Buch mit sieben Siegeln» (S. 135), das unverständlich bleibt, wenn keine historischen Kontexte bzw. Kommentare beigezogen werden. El Sonbati vergleicht den Koran treffenderweise mit einem „Selbstbedienungsladen, in dem jeder das finden kann, wonach ihm das Herz und der Sinn gerade steht. Die Fundamentalisten operieren nach dem <Pick-and-choose>-Prinzip, sie schustern sich ihre menschenverachtende Ideologie zusammen und nehmen das Recht gleich selbst in die Hand, um gegen all jene vorzugehen, die nicht nach Allahs <Willen> leben. Auch jene Muslime, die eine Gegenposition vertreten, wonach der Islam Frieden bedeute und jeglicher Gewalt abhold sei, treffen eine selektive Auswahl und ziehen nur die friedfertigen Verse im Koran heran, deren es zuhauf gibt […]“. (S. 210)
Persönlich bin ich mit den Aussagen und kritischen Sichtweisen der Autorin Jasmina El Sonbati weitgehend einverstanden, ausser mit ihrer Befürwortung der Satiren von Charlie Hebdo. Diese Zeitung bleibt für mich allgemein gesehen ein torchon*, neuerdings bewies sie das auch mit ihren jämmerlichen, sexistischen Karikaturen über die neue Präsidentengattin Brigitte Macron. Krude Respektlosigkeit halte ich für destruktiv in jeder Debatte, egal ob es um ein religiöses Thema geht oder um ein feministisches.
Auch der Forderung nach Imaminnen würde ich natürlich zustimmen, aber tatsächlich frage ich mich, ob die muslimischen Frauen in der arabischen Welt diese Forderung an erster Stelle sähen, wenn es um Gleichberechtigung geht. «Haben denn die Musliminnen keine anderen Probleme?» zitiert Sonbati selber Sakib Halilovic, «ein friedfertiger Vertreter der Schweizer Imamgilde». (S. 116), den Sonbati, wie manche andere, nicht von der Notwendigkeit weiblicher Imame überzeugen konnte. Tatsächlich halte ich diese Forderung für ziemlich utopisch, weil sich ja der Vergleich zur katholischen Kirche aufdrängt, die auch immer noch ein Bastion der Männer ist, obwohl Christinnen (Katholiken und Reformierte) in unseren Breitengraden heutzutage schon seit längerer Zeit ein viel gleichberechtigteres, freieres und selbstbestimmteres Leben leben.
Man könnte sich aber auch vorstellen, dass allein die Überzeugung, dass auch Frauen das Recht haben, Imaminnen zu werden, ein Denkanstoss sein kann für Musliminnen in aller Welt – vorausgesetzt, sie hören überhaupt davon – jahrhundertealte Traditionen in Bezug auf die Benachteiligung der Frau endlich zu hinterfragen und dagegen aufzubegehren.
In ihrem Schlusswort beantwortet Sonbati schliesslich die eingangs gestellte Frage, ob der Islam zur Schweiz gehöre, deutlich mit einem Ja. Sie wünscht sich «einen Islam der Differenz, der Freiheit, der persönlichen Wahl […] und einen Islam der Bescheidenheit und Diskretion». (S. 248, 249)
Den wünsche ich mir auch!
*frz. Wisch
1 Comment
Gehoert die Schweiz zu Europa ? Mit dieser Frage wuerde ich ueberall auf Unverstaendnis stossen.Klar, gehoert der Islam zu Europa.Der Islam aus Saudi Arabien gehoert da sicher nicht dazu, wie das Christentum dort nur als Feindbild gilt.Genauso ist es mit der vielschichtigkeit des Islams, wie auch woanders ,ist die schweigende Mehrheit, bekleidet von sich laut bemerkbar machenden Minderheiten.So entsteht ein falsches Bild.Weder der nach Weltherrschaft, mit allen Mitteln strebenden IS, noch die Liberalen dargestellt von Lamya Kaddor, die meine Symphatie hat, sind der Islam schlechthin.
Ich selbst halte meinen Glauben fuer meine private Angelegenheit, mir war es ein leichtes zum Islam zukonventieren, ich folge meinen Vorvaetern, die gottglaeubig waren.Keine «Kirche» die fuer mich spricht !
Religion sollte Menschen vereinen und taugt somit nicht fuer Politik.