Ein katholischer Frühling ist schon längst überfällig!
26 Januar 2017

Origineller Einstieg und raffinierte Erzählkonstruktion

Raffinierte Erzählkonstruktion

Der im Herbst 2016 im österreichischen Braumüller-Verlag erschienene Roman „Nicht mehr“ von Evelina Jecker Lambreva ist eines der Bücher, das ich gleich ein zweites Mal lesen wollte, nachdem ich am Ende angelangt war, um mir mit meinem im Laufe der Erstlektüre angeeigneten Insiderwissen die ganze raffinierte Erzählkonstruktion nochmals genau anzuschauen. Denn darauf war ich zu Beginn besonders gespannt: Bringt die Autorin alle einzelnen Protagonisten, die ich anfangs mit ihren jeweiligen Familiengeschichten fast nicht auseinanderhalten konnte, überhaupt zusammen und wenn ja, wie?

Denn da ist zuerst Gertrud Schönmeier, eine Frau in den Fünfzigern, die eines Abends vor lauter Verzweiflung in einen Müllcontainer steigt, um sich selber entsorgen zu lassen. Um der Gesellschaft, die sie in der Arbeitswelt und auch als Ehrenamtliche nicht mehr will, nicht weiter zur Last zu fallen. Eine ungewöhnliche, schockierende, aber gleichzeitig sehr originelle Idee eines Romanbeginns legt uns die Autorin hier vor. Und ein äusserst anschauliches Bild unserer Gesellschaft, die Menschen über Fünfzig (oder auch schon früher) in der Arbeitswelt nicht mehr brauchen kann. Tatsächlich aber bleibt Gertrud in ihrem Müllcontainer nicht lange allein, denn jemand wirft ein Baby zu ihr in den Abfall. Von diesem Augenblick an nimmt die grauenhafte Anfangsszene eine ganz andere Wendung …

Die Figuren

In den darauffolgenden Kapiteln kommen weitere Figuren hinzu: Kilian Steinberger, ein völlig überarbeiteter Bankangestellter, der sich in der Villa Primula unter anderem dank dem Klavierspiel von seinem Burn-Out und von seinem ihn fast wahnsinnig machenden Tinnitus erholen soll und der im Hinblick auf das Gesamtgeschehen übrigens einen sehr sprechenden Namen trägt, seine von ihm vernachlässigte Frau Nicole, die zugunsten ihrer Mutterpflichten auf eine Karriere als Wirtschaftsfachfrau verzichtet hat, und deren kleiner Sohn Victor, ein Designerbaby (man beachte auch hier den sprechenden Namen!), zum überbehüteten Lebensmittelpunkt geworden ist, dann Linus, ein gutmütiger lediger Fahrlehrer, der eigentlich lieber Tierarzt geworden wäre und seiner Schwester Judith nachtrauert, die mangels einer rechtzeitigen Organspende gestorben ist, sowie seine Ex-Freundin Jasmin, die sich als Teilnehmerin an einer Diskussionssendung zum Thema Widerspruchslösung öffentlich über die Verschwendung eines Spenderherzens an ihren grässlichen Vater aufregt, der sich auch mit dem fremden Herz weder vom Gemüt noch vom Lebensstil her veränderte und dann zur Erleichterung der Familie endgültig verstarb.

Diskussion für oder wider die Organspende

Tatsächlich nimmt die Diskussion um das Für und Wider der Organspende vom ethischen, moralischen und persönlich-individuellen Standpunkt her einen wichtigen Platz ein im Roman – dessen war ich mir vor Beginn der Lektüre gar nicht bewusst –, und man bekommt den Eindruck, dass dieses Thema der Autorin besonders am Herzen liegt, zumal es auch in ihrer interessanten Erzählsammlung „Unerwartet“ (Pro Libro 2008) einen Text gibt, der den Titel „Die Niere“ trägt und der den illegalen Organhandel in einem Balkanstaat thematisiert.  In „Nicht mehr“ wird die Diskussion über dieses polemische Thema recht ausgewogen dargestellt und die einzelnen Protagonisten machen in Bezug auf ihre eigene Haltung eine gewisse Entwicklung durch.

Besonders interessant ist die Darstellung der verschiedenen Familiengeschichten (z.B. auch prägende Kindheits- und Jugenderlebnisse) und der entsprechenden Beziehungsprobleme der Protagonisten. Da die Autorin Psychiaterin und Psychotherapeutin ist, kommt einem als Leserin schon hie und da der Gedanke, ob der eine oder andere Patient sie dazu inspiriert hat, aber in ihrem Nachwort erklärt sie, „dass sowohl alle Figuren im Roman als auch ihre Geschichten und alle im Roman beschriebenen Geschehnisse frei erfunden und Früchte [ihrer] literarischen Fantasie sind.“ Und sie führt zudem aus, dass „die Romanfiguren in metaphorischer Form Sammelbilder weitverbreiteter gesellschaftlicher Phänomene darstellen“.

Gesellschaftliche Probleme und psychische Prozesse

In der Tat zeigt Evelina Jecker Lambreva diese gesellschaftlichen Phänomene und die psychischen Prozesse sehr anschaulich auf und bestimmt möchte sie mit ihrem Roman bei ihren Leserinnen und Lesern etwas „ausrichten“ oder „in Gang setzen“, d.h. hie und da eine Art Aha-Effekt erzielen in Bezug auf das eigene oberflächlich gesehen manchmal auch widersprüchliche Verhalten.
Sie hätte dazu ja auch einen nüchternen psychologischen Ratgeber schreiben können, aber raffiniert verpackt in die Biographien ihrer literarischen Figuren kommt es bei manchen Leserinnen und Lesern vielleicht im Laufe der Lektüre ganz beiläufig zu einer gewissen Selbsterkenntnis. Dazu verhelfen können auch die verschiedenen Innen- und Aussenperspektiven, die der Leser zusammen mit den Protagonisten kennen lernt. So sieht z.B. Jasmin mit ihren eigenen katastrophalen Familienverhältnissen die Familie von Linus als ideal an, während dieser sie aus seiner Innenperspektive ebenfalls als problematisch entlarvt.
Auf die Perspektive also kommt es an, und im Beschreiben von diesen ist die Autorin gut!
Immer wieder beleuchtet sie ihre Figuren aus anderen Blickwinkeln und erst daraus entsteht dann ein Gesamtbild für den Leser.

Die Bulgarin schreibt auf Deutsch

Sprachlich gefällt mir Evelina Jecker Lambrevas Roman „Nicht mehr“ sehr gut. Ich gehe davon aus, dass der Text von der in Bulgarien aufgewachsenen Autorin in der Originalsprache Deutsch geschrieben wurde, da es nirgends einen Hinweis auf eine Übersetzung gibt. Üblicherweise stelle ich mir diese Frage nicht, wenn ich einen Text auf Deutsch lese, und kein Hinweis auf eine Übersetzung vorhanden ist, aber in der bereits erwähnten Erzählsammlung „Unerwartet“ von Evelina Jecker Lambreva stösst man als LeserIn erst im Impressum auf der allerletzten Seite des Buchs auf den Namen der Übersetzerin, einer Barbara Müller in Sofia, die den Text vom Bulgarischen ins Deutsche übersetzt hat. Normalerweise steht die Angabe zur Übersetzung mit dem Namen des Übersetzers oder der Übersetzerin aber in der Titelei auf den ersten Seiten eines Buchs! Diese Angabe praktisch zu unterschlagen, indem man sie auf die letzte Seite des Impressums, das man zudem beinahe mit der Lupe lesen muss, verbannt und somit den Eindruck erweckt, dass der Text gar nicht übersetzt wurde, stösst mir als diplomierten Übersetzerin (und Autorin) enorm auf. Schliesslich wird der Zugang zum Text in einer Fremdsprache nur durch eine sorgfältige, kreative Übersetzung in eine Zielsprache überhaupt erst möglich. Das wird von vielen LeserInnen und vielleicht auch von manchen AutorInnen der Weltliteratur oftmals vergessen und die Arbeit des literarischen Übersetzers wird kaum oder nur dürftig gewürdigt, was sich übrigens auch im Hungerlohn der literarischen Übersetzer niederschlägt. Ein guter Übersetzer muss aber auch selber das Talent eines Schriftstellers haben, um den Originaltext mit all seinen Finessen, Doppeldeutigkeiten, Sprachspielen usw. in seiner Zielsprache wiedergeben zu können. Seine sprachliche Kreativität in seiner Muttersprache und seine perfekte Kenntnis der Fremdsprache, aus der er übersetzt, sind also die unabdingbaren Voraussetzungen für eine gute Übersetzung.
Dies sei nur als kleiner Exkurs zum Thema Übersetzen gesagt.

Den Roman „Nicht mehr“ von Evelina Jecker Lambreva, in der mindestens drei Protagonisten am Ende zu einem neuen Lebenssinn und somit zu ihrem eigenen Glück finden, darunter Gertrud Schönmeier, empfehle ich gerne weiter und ich wünsche der Autorin weiterhin viel Erfolg mit ihrem kreativen Schaffen!

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2 Comments

  1. Evgenia Karp sagt:

    Liebe Frau Siouda,
    wir freuen uns sehr über ihre gelungene und ausführliche Rezension zu dem Werk von Frau Jecker Lambreva. Das Buch ist tatsächlich nicht übersetzt, die Autorin schreibt auf beiden Sprachen. Als Komparatistin interessiere ich mich persönlich allerdings sehr für die Sparte und kann damit ihren Worten nur beipflichten; diese Arbeit wird eindeutig zu wenig gewürdigt, dabei schaffen Übersetzer unglaubliche Hürdenläufe, dank denen Literatur für eine breitere Leserschaft zugänglich gemacht wird. Die Feinarbeit, den Ausgangstext in einer möglichst authentischen Wiedergabe in eine andere Sprache zu über-setzen, wortwörtlich, ist ein wunderschöner Knochenjob, und ich bin allen jenen sehr dankbar, die sich dieser Arbeit annehmen, so auch Ihnen. Weshalb ich mich auch persönlich bewegt sah, auf Ihre wunderbare Rezension zu kommentieren.
    Vielen herzlichen Dank und liebe Grüße,
    Evgenia Karp, Presseassistenz Braumüller

  2. Anja Siouda sagt:

    Liebe Frau Karp,
    herzlichen Dank für Ihren interessanten positiven Kommentar und Ihre Wertschätzung der Arbeit der Übersetzer, die mich natürlich sehr freut!
    Ich machte selber keine literarischen Übersetzungen bisher, sondern beschränkte mich auf pragmatische Texte, aber ich habe vor einiger Zeit das Image der Übersetzerinnen in der Literatur im Rahmen meiner Diplomarbeit (Master) anhand von mehreren Romanen analysiert und dabei feststellen können, wie dürftig und oftmals auch sexistisch das Image der Übersetzerinnen immer noch ist.
    Falls das Thema Sie interessiert, können Sie die Diplomarbeit in den Archiven der Universität Genf einsehen: Übersetzen als Liebesersatz, Therapie und Beziehungskunst. Die Darstellung der fiktiven Übersetzerin. Analyse von sieben Fallbeispielen. Master en traduction, Traductologie. Universität Genf 2010
    http://archive-ouverte.unige.ch/vital/access/manager/Repository/unige:12743?query=siouda
    Nochmals herzlichen Dank für Ihr promptes und sehr positives Feedback und weiterhin viel Erfolg mit Ihrer Autorin Evelina Jecker Lambreva!
    Mit lieben Grüssen aus Frankreich
    Anja Siouda

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